„Eines Weltmeisters würdig“ werde man spielen, so hatte Löw es vorher angekündigt – nun musste er sich fühlen wie einer, der die Latte auf mittlere Höhe hängt und mitansehen muss, wie seine Elf sie nicht mal reißt.
Ob die Elf aus Gibraltar ihn auch so beeindruckt hätte, diese Frage hatte ein Reporter aus Gibraltar nach dem 4:0 im EM-Qualifikationsspiel gerade gestellt. Der Reporter schaute sehr siegessicher. Er ahnte, dass er jetzt gleich der Mann sein würde, der den Menschen in Gibraltar das Lob des Weltmeistertrainers übermittelt.
Aber dann zuckte es eben in Löws Gesicht, und Löw sagte bedächtig: „Ich bin jetzt nicht so beeindruckt von Gibraltar.“ Pause. Und dann, noch einmal und mit mehr Nachdruck: „Das bin ich nicht.“
Löw ist ein höflicher Mensch, und in seiner charakterlichen Grundausstattung ist es eigentlich nicht enthalten, Menschen oder gar ganze Regionen zu quälen. Aber das war zu viel verlangt. Gibraltar zu loben, hätte bedeutet, alles zu verleugnen, woran dieser Trainer glaubt. „Das Ergebnis hatte weniger mit Gibraltar, sondern mehr mit uns zu tun“, sagte Löw, „hätten wir unser Spiel mit aller Konsequenz durchgezogen, hätte Gibraltar sicher mehr Tore kassiert.“
Vier Tore hat seine Elf am Ende zustande gebracht gegen einen wackeren Winzling, dessen Niveau kaum ausreicht, um in der deutschen dritten Liga eine glaubwürdige Chance auf den Klassenerhalt zu besitzen. In Löws charakterlicher Grundausstattung ist es auch nicht enthalten, seine Elf öffentlich zu tadeln, aber an diesem Abend hatte er gleich doppelt das Gefühl, dass er seinen Charakter vorübergehend ignorieren muss.
Zum einen wollte Löw nach außen dokumentieren, dass der Weltmeistertrainer hier nichts schönredet; zum anderen wollte er schon auch nach innen ausrichten, dass er sich vom Team gerade nicht sehr unterstützt fühlt. „Eines Weltmeisters würdig“ werde man spielen, so hatte Löw es vorher angekündigt – nun musste er sich fühlen wie einer, der die Latte auf mittlere Höhe hängt und mitansehen muss, wie seine Elf sie nicht mal reißt. Sie ist einfach drunter durch spaziert.
Tatsächlich gab es Spieler, die sich mitunter bewegten, als hätten sie Thomas Müllers Dirndl an. Der große Toni Kroos etwa dirigierte mit einem gesetzlich gerade noch zulässigen Mindestmaß an Engagement, der auf seine Art ebenfalls große Lukas Podolski verwechselte manchmal Lauf- und Stehwege, aber auch Spielern wie Max Kruse oder Erik Durm gelang es allenfalls, auf ihre Entbehrlichkeit hinzuweisen. Solche Bilder waren es, die Löw in einen Gefühlszwiespalt stürzten; er wollte das Spiel schon ein bisschen übel nehmen, aber er hatte auch Verständnis. Löw kennt ja den Weg, den diese Elf hinter sich hat.
Das Spiel gegen Gibraltar lag am Ende eines langen roten Teppichs. Die Spieler kommen gerade aus einem Film, in dem sie sich selbst bewundert haben, und Löw weiß ja, dass das Spiel als solches schnell erklärt ist. Zum Filmriss gegen Gibraltar trugen bei (in beliebiger Reihenfolge): mangelnde Körperspannung bei Spielern mit Spielpraxis; mangelnde Körperspannung bei Spielern mit wenig Spielpraxis; fehlende Automatismen aufgrund fehlenden gemeinsamen Trainings; fehlende Automatismen aufgrund einer Aufstellung, die es so noch nie gab. Nach den Rücktritten von Lahm, Klose, Mertesacker und dem Ausfall von Schweinsteiger fehlt es auf dem Platz an Führung; und nach den Verletzungen von Özil, Reus oder Draxler fehlt es an Spielern, denen Lösungen auf engstem Raum einfallen. Karim Bellarabi war der einzige, der ab und zu herumdribbelte um den Affenfelsen, den die Gäste vor ihr Tor montiert hatten. Aber auch er startete seine Dribblings oft aus dem Stand, das reichte, um einen Gegenspieler durcheinanderzubringen; aber es reichte nicht, um eine ganze Abwehr in den Wahnsinn zu treiben.
Am Dienstag begegnen die Deutschen zum Abschluss ihres Weltmeisterjahres jener Elf, die sie viele Jahre als Vorbild verehrt haben. Das Spiel gegen die Spanier, die Löw die Spannnier nennt, lenkt den Blick in eine Zukunft, die Löw etwas unruhig macht. Das war wohl der wahre Grund für seine Grummeligkeit nach dem Spiel: Löw weiß nicht mehr so genau, ob es tatsächlich nur die roten Teppiche sind, die seine Weltmeister etwas vom Weg abgebracht haben – oder ob der personelle Umbruch sein Team doch anfälliger gemacht hat als erhofft. Die ersten Etappen der Qualifikationstour haben Löw jedenfalls gezeigt, dass die Elf sich und ihre Hierarchien erst wieder finden muss. Auch Kroos muss jetzt führen, auch Boateng muss jetzt führen, und Khedira muss erst Spielpraxis sammeln, um wieder führen zu können.
Diese kleineren Unsicherheiten beschäftigen Löw derart, dass er sie bereits in einen größeren Zusammenhang stellt. Er hat „Anpassungen und Änderungen im Spielstil“ angekündigt, eine „Kurskorrektur“; das klingt so vage, wie es vorerst auch noch ist. Insider gehen aber davon aus, dass Löw seine Elf noch mehr in Richtung FC Bayern umzumodellieren versucht, mit einer Dreier-Abwehr und einem radikal flexiblen Mittelfeld, in dem alle vieles und viele alles können. Ob Löw die Spieler dafür hat, ist eine jener interessanten Fragen, die im Jahr 2015 auf eine Antwort warten.
In Spanien wird Löw aber mit weniger Bayern denn je auskommen, Torwart Manuel Neuer (Beschwerden im Kniegelenk) und Abwehrchef Jérôme Boateng (muskuläre Probleme in der Wade) haben die Reise stornieren dürfen. Löw hat den Verteidiger Robin Knoche nachnominiert, es ist ein Spieler, der immerhin mit einem Wettbewerbsvorteil anreist: Er kommt nicht vom roten Teppich. Er kommt aus Wolfsburg.