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Wir müssen reden

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„Dieses Land hat noch immer bekommen, was es wollte“, sagt der Prophet über die Morde des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU). Vereinzeltes Raunen im Publikum. Eine schmerzhaft lakonische Bemerkung – es ist nur eine der Spitzen, die Elfriede Jelinek in ihrem Stück „Das schweigende Mädchen“ verteilt.



Beim Gerichtsprozess schweigt Beate Zschäpe. Im Theater versucht Elfriede Jelinek, dieses Schweigen zu brechen.

„Offener Prozess“ heißt die viertägige Veranstaltung, mit der sich die Münchner Kammerspiele und das Residenztheater dem NSU-Komplex widmen. In Zusammenarbeit mit der Fachstelle gegen Rechtsextremismus, dem Süddeutsche Zeitung Magazin und Bayern 2 gehen Inszenierungen, Filme und Podiumsgespräche den Fragen nach, die Deutschland seit Bekanntwerden des NSU im November 2011 bewegen: Wie konnte die Zwickauer Zelle ihre Taten begehen, ohne entdeckt zu werden? Wieso wurde nicht in der rechtsradikalen Szene ermittelt? Und vor allem: Was sagt die entsetzliche Mordserie des NSU über den Staat, in dem sie stattfinden konnte?

Beate Zschäpe, die Hauptangeklagte im NSU-Prozess, schweigt zu all dem. Jelinek versucht, dieses Schweigen zu brechen, es zum Klingen zu bringen. Die Bühne ist Gerichtssaal und Jüngstes Gericht zugleich. In einem opulenten Stream of Consciousness lässt sie einen Richter, Engel und Propheten Teile der NSU-Berichterstattung wiedergeben und verwischt dabei die Grenze zwischen Aufklärung und Abrechnung. Sätze wie „Keine Sorge Staat, nur die Diener sterben“ quittieren die Zuschauer mit spöttischer Zustimmung – das Vertrauen in die Sicherheitsarchitektur der Bundesrepublik ist beschädigt.

„Das schweigende Mädchen“ versucht eine Sprache zu finden, mit der sich über den Terror des NSU reden lässt. „Es fühlt sich noch nach einem Stammeln an“, sagt die Schauspielerin Wiebke Puls beim Publikumsgespräch, „aber das wird sich ändern“. Annette Ramelsberger, die ebenfalls zur Diskussion geladen war, hat als Gerichtsreporterin der SZ den NSU-Prozess von Beginn an begleitet und – ebenso wie ihre Kollegen Tanjev Schultz und Rainer Stadler – Protokoll darüber geführt. Die gemeinsame szenische Lesung dieser Protokolle durch Schauspieler der Kammerspiele und des Residenztheaters bildete am Donnerstag den Auftakt der Veranstaltungsreihe. „Die Mitschriften sind durch die Aufführung dreidimensional geworden“, sagt Ramelsberger.

Im Prozess gegen Zschäpe geht es um mehr als um die Morde an zehn unschuldigen Menschen. Eine Frage, die bei der Veranstaltung permanent im Raum steht: Wer sind wir und wer sind „die anderen“?

Besonders deutlich macht dies „Urteile“, ein dokumentarisches Theaterstück von Christine Umpfenbach und Azar Mortazavi im Marstall. Umpfenbach hat dazu mit Angehörigen, Freunden und Arbeitskollegen von Habil Kılıç und Theodoros Boulgarides gesprochen, den beiden NSU-Opfern aus München. Mit Mortazavi hat sie die Interviews zu einer Textcollage montiert. Die Szenen lassen erahnen, wie sich die Familien der Opfer fühlten, als die Ermittler sie fragten: War ihre Ehe in Ordnung? Welche Drogen verkaufte ihr Bruder? Und sie zeigen, wie weit sie geht, diese Unterscheidung zwischen uns und „den anderen“. Etwa so weit, dass der Tochter eines Opfers höflich nahegelegt wird, die Schule zu wechseln – kurz nach dem sie ihren Vater verloren hatte.

Dass „Offener Prozess“ nahezu ausverkauft war, dass die Reihen während der Diskussionen und Gespräche besetzt blieben, lässt hoffen: Es gibt eine Öffentlichkeit, die sich der zivilgesellschaftlichen Dimension der Aufklärung der NSU-Morde bewusst ist. Eine Öffentlichkeit, die Ulrich Chaussy Anfang der Achtzigerjahre fehlte. Chaussy ist Reporter beim Bayerischen Rundfunk und recherchiert seit mehr als drei Jahrzehnten zum Oktoberfestattentat. Bei dem Terroranschlag starben am 26. September 1980 durch eine Explosion 13 Menschen, mehr als 200 wurden verletzt. Die Bundesanwaltschaft kam 1982 zu dem Schluss, dass ein Einzeltäter aus Hass und sexueller Frustration den Anschlag ausgeführt habe – eine Theorie, die umstritten ist. Indizien sprechen dafür, dass die neonazistische „Wehrsportgruppe Hoffmann“ an dem Anschlag beteiligt war. Schon früh wurde Chaussy auf die rechtsradikalen Hintergründe der Tat aufmerksam, doch geglaubt wurde ihm nicht. „Ich kann auch heute nicht verstehen, dass immer nur von diesem Trio gesprochen wird“, sagt Chaussy zu den NSU-Ermittlungen. 2013 wurde mit „Der blinde Fleck“ sein Leben verfilmt. Und man kann sich während des Filmes nicht gegen den Eindruck wehren: Die Geschichte scheint sich zu wiederholen.

Bei der Abschlussdiskussion am Sonntag wurde vor allem eines klar: Es ist noch zu früh, um beurteilen zu können, inwiefern Behörden und Verfassungsschutz in Zusammenhang mit dem NSU versagt haben. Erst müsse rekonstruiert werden, wie die Ermittlungen im Detail abliefen, so Dirk Laabs, Autor des Buches „Heimatschutz. Der Staat und die Mordserie des NSU“. Seda Basay-Yildiz, die Anwältin des ersten NSU-Opfers, hat jedoch Zweifel, wie viel man noch erfahren wird in einem Prozess, dessen Hauptangeklagte schweigt.

Eine Frage muss man sich jetzt schon stellen: Wird man lernen aus dem Fall?


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