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Schleudertrauma-Pop

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Es ist ein merkwürdiger Lapdance, der da hoch über den Köpfen der Zuschauer aufgeführt wird. Die Lapdance ist kein Verführungstänzchen, wie wir es kennen aus Musikvideos oder Bühnenshows, sondern ein ganz und gar außerweltlicher. Lustvoll winden sich die Alabasterglieder eines nackten, animierten Frauenkörpers auf der Leinwand, verformen und krümmen sich wie zähflüssiges Plastik vor einem tiefschwarzen Nichts. Seltsam körperlos ist dieses Wesen, das sich da am Freitagabend über der Bühne des Berliner Clubs Berghain biegt und dreht.



Kanye West lies vier Tracks auf "Yeezus" von Arca produzieren, Björk und FKA Twigs folgten.

Es (oder sie?) ist so etwas wie das virtuelle Alter Ego des Elektro-Produzenten Arca und tanzt für den Mann am DJ-Pult in Videoclips und bei Liveshows. Das Berlin-Konzert des gebürtigen Venezolaners war wegen der großen Nachfrage von einem kleinen Nebengebäude in die große Haupthalle verlegt worden – selbst hier in Deutschlands berühmtesten Club, so scheint es, hatte man die schrägen, dunklen Alien-Sounds des 24-jährigen Alejandro Ghersi eher als Nischenthema für Musik-Cracks verortet. Stattdessen aber erfindet Arca mit seinem im November erschienenen, gefeierten Debüt-Album „Xen“ wahrscheinlich gerade die Popmusik der Zukunft. Eine Popmusik nämlich, die sich ihrer digitalen Form- und Dehnbarkeit ganz und gar hingibt. Elastische Musik in gewissem Sinne, ohne feste Raster oder Formen.

Arca ist der Produzent der Stunde – vor allem weil sein eigenwilliger, ambivalenter Sound nicht mehr nur unter Kennern elektronischer Musik für Aufsehen sorgt, trotz seiner vermeintlich geringen Massentauglichkeit. Längst sind große Stars interessiert: Für Kanye West koproduzierte er 2013 vier Songs auf dessen wegweisenden Donnerschlag-Werk „Yeezus“ (unter anderem den besten Track des Albums „Blood On The Leaves“). Für FKA Twigs, das neue Pop-Gesicht dieses Jahres, zwirbelte er die geisterhaften Sounds ihres Hits „Water Me“ zurecht. Und dann ließ auch noch Björk höchstpersönlich verlauten, dass sie sich Ghersi für ihr neues Album ins Studio holt. Mit anderen Worten: Alles deutet darauf hin, dass dieser junge, scheue Venezolaner, der so ungern Interviews gibt und sich fotografieren lässt, gerade dabei ist, eine Art Super-Produzent der nächsten Generation zu werden. Einer, der vielleicht in diesen Tagen bestimmt, was wir in fünf Jahren so oder so ähnlich in jedem zweiten Popsong hören werden.

Schwer vorzustellen ist diese nahe Zukunft beim Anblick der bizarren Tänzerin. Auch wenn man zunächst annimmt, es ginge um bloße Provokation: Das biegsame, künstliche Geschöpft, das auf der Leinwand flackernd seine Kreise zieht, ist mit seinem Glatzkopf und der deformierten weiblichen Silhouette eine durch und durch gelungene Metapher für die neue Dehnbarkeit der Popmusik: verstörend und faszinierend zugleich, geschlechtlos und überhaupt: post-human.

Es ist ein Werk Londoner Videokünstlers Jesse Kanda, mit dem Arca befreundet ist. Sofort muss man an Chris Cunninghams Musikvideo zu „Windowlicker“ von Aphex Twin denken mit seinen schauderhaft entstellten, digital bizarr verzerrten Grimassen.

Der Vergleich mit Aphex Twin, der mit seinem neuen Album „Syro“ nach langer Pause ja auch gerade wieder von sich reden machte, passt aber nicht nur visuell ins Bild, sondern auch musikalisch. Arcas Soundvisionen nämlich muten ebenso innovativ und futuristisch an, wie 1999 die „Windowlicker EP“, die damals wie ein Fremdkörper, wie ein exotisches Einsprengsel aus dem Techno-Underground in den britischen Top 20 stand. 15 Jahre sind seitdem vergangen, was in der Popmusik ja eine halbe Ewigkeit ist. Mindestens. 15 Jahre, in denen digitales Sounddesign längst in die hintersten Winkel der Mainstream-Songkunst gekrochen ist.

Ein sphärisches, zukunftsweisendes, wildes Opus wie Arcas „Xen“ es ist – das ist heute ein wahrer Kunstgriff. Allein die Art, wie die sperrige, bedrohlich knisternde Computermusik seiner Tracks aus der Masse der Abertausenden elektronischen Produktionen, die jedes Jahr erscheinen, herausragt, ist eine kleine Sensation.

Auch beim Konzert im Berghain, wo man schon so oft ganz unterschiedlichen Spielarten der Clubmusik gelauscht hat, wird sofort klar: So gut wie nichts an diesem Sound ist konventionell.

Laut und kratzig ist er einerseits, angenehm spröde und aufgeräumt andererseits, und trotzdem gänzlich fremdartig – eine akribisch ausgearbeitete Vision, wie ein Albtraum, den man betritt, ohne Angst zu haben.

Auch wenn die bleiche, gespenstische Tänzerin auf der Leinwand uns etwas anderes weismachen möchte, gibt es keine Beats, zu den man tanzen könnte. Auch Melodien deuten sich nur an, wie gleich im Eröffnungsstück „Now You Know“, um sofort wieder im schrillen Maschinenhall zu zerbröseln. Rhythmische Muster werden mitten im Song fallen gelassen. Mal hört man verzerrte Fragmente eines Streicherensembles, mal chinesische Zupfinstrumente oder hochgepitche karibische Steeldrums – alles digital verformt bis zur Unkenntlichkeit. Irgendwo unter dem Stöhnen und Ächzen der Elektronik, unter dem Brausen und Pochen verbirgt sich das Skelett der kargen Hip-Hop-Beats, mit denen Arca vor Jahren angefangen hat und die man auf den frühen EPs 2012 noch klarer heraushört. Jetzt gibt es nur noch die Ahnung eines Reggaeton-Beats in „Thievery“, dem einzigen Stück des Albums, das man als Single bezeichnen könnte.

Aber selbst als am Ende in „Slit Thru“ heisere Scratch-Laute erklingen, nicken die Zuschauer höchstens mit dem Kopf. Die Beine aber bleiben sonderbar still. Man steht bloß da, narkotisiert wie nach einem Schleudertrauma, in einer verwunschenen Klangwelt. Ein wenig ist es wie bei einem Rorschachtest – man sieht und hört, was man sehen und hören will. Alles hier ist amorph und flüchtig – anonym wenn man so will – wie die virtuellen Identitäten, in deren Gestalt wir durchs Internet huschen. Arcas Musik reicht nah an unsere Netz-Gegenwart heran.

Am Ende des Auftritt flimmert ein grellblaues Testbild auf der Leinwand –aber keineswegs ein Versehen. Die Technik will hier längst nichts Menschliches mehr vortäuschen. Sie selbst soll fühlbar und greifbar werden – mit ihren eigenen digitalen Mitteln. Dass Menschen in gar nicht so ferner Zukunft Sex mit Computern haben werden – nach diesem Konzert kann es daran eigentlich keinen Zweifel mehr geben.

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