Aufklärungsstunden sind für Lehrer und Schüler oft peinlich - junge Medizinstudenten springen ein
An der Tafel steht das ABC, und elf Schüler der achten Klasse stürzen nach vorne, rangeln um die Kreide. Stühle fallen und es quietscht ein bisschen, als Mustafa und Deniz, Filip und André schreiben: Blasen bei B und Erektion bei E. Ficken bei F und Sperma bei S. Die Tafel ist am Ende voll. Nicht alle Wörter ergeben wirklich Sinn, und manche sind unvorstellbar vulgär. Elf Achtklässler unter sich, Jungen auf dem Weg zum Mann. Ihre Aufgabe heute: das Sex-ABC, kein pubertärer Jux, sondern hochoffiziell und didaktisch wertvoll.
Die Auslöser für so viel Sex in diesem Münchner Klassenzimmer, für so viel Jugendsprache und Heiterkeit sind Charlotte Hacker und Jascha Ell, beide 24 Jahre alt. Sie stehen ein wenig seitlich, wie Lehrer es manchmal tun. "Eigentlich läuft das immer so ab", sagt Charlotte und blickt zufrieden auf die Tafel. Die beiden sind Medizinstudenten und engagieren sich bei "Mit Sicherheit verliebt", einem bundesweiten Präventionsprojekt von Studenten für Jugendliche. Einen ganzen Tag geht es nur um Sex. Mit dabei: ungewollte Schwangerschaften, Krankheiten, Pornos, das erste Mal. Der Lehrer muss draußen bleiben.
Eigentlich ist Aufklärung etwas für den Biologieunterricht. Lehrer dozieren dann über den weiblichen Zyklus, im Lehrplan steht: "Bau und Funktion der Geschlechtsorgane". Aber zu Hause flimmert über die Schülerlaptops weitaus Härteres. Mehr Aufklärungsunterricht fordern Lehrerverbände immer wieder. "Mit Sicherheit verliebt" macht das nun schon seit Jahren.
Ursprünglich kommt die Idee aus Schweden. Hierzulande gibt es das Projekt seit 2001 und mit mittlerweile 30 lokalen Gruppen, koordiniert von der Bundesvertretung der Medizinstudierenden in Deutschland. 400 junge Leute besuchen regelmäßig Klassen, klären auf und warnen vor sexuellen Krankheiten, vor allem in der sechsten bis achten Jahrgangsstufe.
Wie eben an diesem Tag in einer Münchner Realschule. Auf dem Linoleumboden liegt der Kreidestaub, die Wände sind blau und rosa gestrichen, zudem fast kahl: eine Klasse pubertierender Jungen. Diese sitzen jetzt wieder auf den Stühlen, im Kreis. Manche haben sich die Kapuzen über das Gesicht gezogen, halb verdeckte Bubengesichter. Gel stemmt die kunstvollen Haartollen bei anderen nach oben, einer hängt im Trainingsanzug auf dem Stuhl wie ein nasser Sack. Beim Buchstaben D steht "Doggystyle" vorne an der Tafel. "Das bedeutet von hinten und so", sagt einer vorlaut. "So wie du das magst", quatscht ein anderer forsch dazwischen. Charlotte und Jascha lassen die Schüler reden, jeder darf alles sagen, das ist das Prinzip. Sie sind keine Lehrer, sie wollen auch keine sein.
Auf einem Tisch steht ein schwarzer Koffer, vollgepackt mit Kondomen, Holzpenissen und Schwangerschaftstests. Schulunterricht sieht normal anders aus, alleine schon wegen der vielen dummen Sprüche. Manchmal sind sie auch richtig derb. "Aber das ist okay", sagt Charlotte, "sie sollen ja offen reden." Die Mädchen an der Realschule machen das Ganze an diesem Tag übrigens auch, nur separat im benachbarten Klassenzimmer. "Sonst sagen die ja gar nichts", meint die Dozentin.
Aber braucht es das alles wirklich? Reden über Sex, Liebe, Pornos - ohne ein Blatt vor dem Mund? Das üppige Sex-ABC legt schließlich nahe: Die Schüler wissen doch ohnehin schon alles. Charlotte steht jetzt vorne und fixiert die Klasse. "Wie oft gibt es einen Eisprung?", fragt sie. "Einmal im Jahr", schätzt einer. "Dreimal im Monat", ein anderer. Eine Stunde ist vorbei und klar ist, wie viel bewegte Bilder die Jungen schon gesehen haben. Aber Mustafa, André und die anderen Jugendlichen hocken da und kratzen sich bei vielen Themen immer wieder am Kopf - keine Ahnung. "Gegen Aids kann man sich doch eh impfen", rät einer. Charlotte verdreht die Augen - Zeit für Grundlegendes.
Die Welt der Schüler ist den Studenten noch nicht fremd, anders als vielleicht im Falle des Biologielehrers. "Peer-Education" nennt sich das Prinzip, Erziehung durch ungefähr Gleichaltrige: "Die Schüler öffnen sich uns", sagt Charlotte, seit ihrem ersten Semester ist sie schon dabei. An der Münchner Realschule sind heute neun Studenten im Einsatz, die ganze achte Jahrgangsstufe ist dran. Zwar meint Robert Angeli, der verantwortliche Lehrer: "Vielleicht ist es ein bisschen spät." Andererseits machen die Schüler große Augen, wenn plötzlich HIV an der Tafel steht.
"Gerade die Jungs hatten schon viel sexuellen Input, vor allem aus dem Internet", sagt Charlotte. Aber die Erwartungen an Sex seien völlig falsch. Und auch von Krankheiten und Verhütungsmethoden hat kaum einer Ahnung. Als Charlotte und Jascha die Kondome austeilen, jeder eines, zum Überstreifen auf das Stuhlbein, ist das Vertrauen da: "Die Schüler sehen uns ja im Normalfall nie wieder", sagt Jascha, "deswegen gibt es auch keine Scheu." Die Studenten werden mit Fragen überhäuft, und genauso ist das gedacht. Vaginismus, was ist das? Wie bekommt man Hodenkrebs, was ist eine Hodentorsion? "Verdrehte Hoden", sagt Mustafa danach, "krass."
Sie selbst hätte sich früher so einen Besuch in der Schule gewünscht, sagte Charlotte. Auch sie hatte als Mädchen keine Ahnung, die Verunsicherung machte ihr Angst. Heutigen Schülern soll es anders gehen. Viele der beteiligten Studenten engagieren sich auch gerne, um mal weg vom Schreibtisch zu kommen, raus aus der Klinik. Charlotte will später als Urologin arbeiten. Was am Ende hängen bleiben wird, wenn die Studenten die Koffer packen und die Tafel wischen, ist ungewiss. Zumindest der realistische Umgang mit Sexualität wäre ein schöner Effekt, hoffen sie. Und tatsächlich kommen nach fünf Stunden Spielen, Diskutieren und pubertären Sprüchen auch Fragen wie diese: "Wie lange sollte man warten fürs erste Mal?" Die Jungen aus der achten Klasse sind da für einen Moment ganz still.
An der Tafel steht das ABC, und elf Schüler der achten Klasse stürzen nach vorne, rangeln um die Kreide. Stühle fallen und es quietscht ein bisschen, als Mustafa und Deniz, Filip und André schreiben: Blasen bei B und Erektion bei E. Ficken bei F und Sperma bei S. Die Tafel ist am Ende voll. Nicht alle Wörter ergeben wirklich Sinn, und manche sind unvorstellbar vulgär. Elf Achtklässler unter sich, Jungen auf dem Weg zum Mann. Ihre Aufgabe heute: das Sex-ABC, kein pubertärer Jux, sondern hochoffiziell und didaktisch wertvoll.
Die Auslöser für so viel Sex in diesem Münchner Klassenzimmer, für so viel Jugendsprache und Heiterkeit sind Charlotte Hacker und Jascha Ell, beide 24 Jahre alt. Sie stehen ein wenig seitlich, wie Lehrer es manchmal tun. "Eigentlich läuft das immer so ab", sagt Charlotte und blickt zufrieden auf die Tafel. Die beiden sind Medizinstudenten und engagieren sich bei "Mit Sicherheit verliebt", einem bundesweiten Präventionsprojekt von Studenten für Jugendliche. Einen ganzen Tag geht es nur um Sex. Mit dabei: ungewollte Schwangerschaften, Krankheiten, Pornos, das erste Mal. Der Lehrer muss draußen bleiben.
Eigentlich ist Aufklärung etwas für den Biologieunterricht. Lehrer dozieren dann über den weiblichen Zyklus, im Lehrplan steht: "Bau und Funktion der Geschlechtsorgane". Aber zu Hause flimmert über die Schülerlaptops weitaus Härteres. Mehr Aufklärungsunterricht fordern Lehrerverbände immer wieder. "Mit Sicherheit verliebt" macht das nun schon seit Jahren.
Ursprünglich kommt die Idee aus Schweden. Hierzulande gibt es das Projekt seit 2001 und mit mittlerweile 30 lokalen Gruppen, koordiniert von der Bundesvertretung der Medizinstudierenden in Deutschland. 400 junge Leute besuchen regelmäßig Klassen, klären auf und warnen vor sexuellen Krankheiten, vor allem in der sechsten bis achten Jahrgangsstufe.
Wie eben an diesem Tag in einer Münchner Realschule. Auf dem Linoleumboden liegt der Kreidestaub, die Wände sind blau und rosa gestrichen, zudem fast kahl: eine Klasse pubertierender Jungen. Diese sitzen jetzt wieder auf den Stühlen, im Kreis. Manche haben sich die Kapuzen über das Gesicht gezogen, halb verdeckte Bubengesichter. Gel stemmt die kunstvollen Haartollen bei anderen nach oben, einer hängt im Trainingsanzug auf dem Stuhl wie ein nasser Sack. Beim Buchstaben D steht "Doggystyle" vorne an der Tafel. "Das bedeutet von hinten und so", sagt einer vorlaut. "So wie du das magst", quatscht ein anderer forsch dazwischen. Charlotte und Jascha lassen die Schüler reden, jeder darf alles sagen, das ist das Prinzip. Sie sind keine Lehrer, sie wollen auch keine sein.
Auf einem Tisch steht ein schwarzer Koffer, vollgepackt mit Kondomen, Holzpenissen und Schwangerschaftstests. Schulunterricht sieht normal anders aus, alleine schon wegen der vielen dummen Sprüche. Manchmal sind sie auch richtig derb. "Aber das ist okay", sagt Charlotte, "sie sollen ja offen reden." Die Mädchen an der Realschule machen das Ganze an diesem Tag übrigens auch, nur separat im benachbarten Klassenzimmer. "Sonst sagen die ja gar nichts", meint die Dozentin.
Aber braucht es das alles wirklich? Reden über Sex, Liebe, Pornos - ohne ein Blatt vor dem Mund? Das üppige Sex-ABC legt schließlich nahe: Die Schüler wissen doch ohnehin schon alles. Charlotte steht jetzt vorne und fixiert die Klasse. "Wie oft gibt es einen Eisprung?", fragt sie. "Einmal im Jahr", schätzt einer. "Dreimal im Monat", ein anderer. Eine Stunde ist vorbei und klar ist, wie viel bewegte Bilder die Jungen schon gesehen haben. Aber Mustafa, André und die anderen Jugendlichen hocken da und kratzen sich bei vielen Themen immer wieder am Kopf - keine Ahnung. "Gegen Aids kann man sich doch eh impfen", rät einer. Charlotte verdreht die Augen - Zeit für Grundlegendes.
Die Welt der Schüler ist den Studenten noch nicht fremd, anders als vielleicht im Falle des Biologielehrers. "Peer-Education" nennt sich das Prinzip, Erziehung durch ungefähr Gleichaltrige: "Die Schüler öffnen sich uns", sagt Charlotte, seit ihrem ersten Semester ist sie schon dabei. An der Münchner Realschule sind heute neun Studenten im Einsatz, die ganze achte Jahrgangsstufe ist dran. Zwar meint Robert Angeli, der verantwortliche Lehrer: "Vielleicht ist es ein bisschen spät." Andererseits machen die Schüler große Augen, wenn plötzlich HIV an der Tafel steht.
"Gerade die Jungs hatten schon viel sexuellen Input, vor allem aus dem Internet", sagt Charlotte. Aber die Erwartungen an Sex seien völlig falsch. Und auch von Krankheiten und Verhütungsmethoden hat kaum einer Ahnung. Als Charlotte und Jascha die Kondome austeilen, jeder eines, zum Überstreifen auf das Stuhlbein, ist das Vertrauen da: "Die Schüler sehen uns ja im Normalfall nie wieder", sagt Jascha, "deswegen gibt es auch keine Scheu." Die Studenten werden mit Fragen überhäuft, und genauso ist das gedacht. Vaginismus, was ist das? Wie bekommt man Hodenkrebs, was ist eine Hodentorsion? "Verdrehte Hoden", sagt Mustafa danach, "krass."
Sie selbst hätte sich früher so einen Besuch in der Schule gewünscht, sagte Charlotte. Auch sie hatte als Mädchen keine Ahnung, die Verunsicherung machte ihr Angst. Heutigen Schülern soll es anders gehen. Viele der beteiligten Studenten engagieren sich auch gerne, um mal weg vom Schreibtisch zu kommen, raus aus der Klinik. Charlotte will später als Urologin arbeiten. Was am Ende hängen bleiben wird, wenn die Studenten die Koffer packen und die Tafel wischen, ist ungewiss. Zumindest der realistische Umgang mit Sexualität wäre ein schöner Effekt, hoffen sie. Und tatsächlich kommen nach fünf Stunden Spielen, Diskutieren und pubertären Sprüchen auch Fragen wie diese: "Wie lange sollte man warten fürs erste Mal?" Die Jungen aus der achten Klasse sind da für einen Moment ganz still.