Es sind nun nicht acht, sondern sechzehn Seiten geworden und statt drei Millionen sollen nun fünf Millionen Exemplare der neuen Ausgabe von Charlie Hebdo gedruckt werden. Vor dem Anschlag lag die Auflage bei 60000 Stück. Nach der emotionalen und politischen ist also die Stunde der publizistischen Sensation gekommen, als wollten die zu Hunderttausenden in den Märschen vom Sonntag Vereinten ihre Solidarität beim Schlangestehen vor dem Kiosk noch einmal beweisen. In den meisten Pariser Zeitschriftenläden war Mittwoch früh kurz nach sieben schon kein Charlie-Hebdo-Heft mehr zu finden. Stammkunden durften sich auf die Warteliste für ein Nachdruckexemplar eintragen. Ähnlich lief es auch in der tiefsten Provinz, in Treignac im Limousin etwa, das Bekanntheit erlangte, weil die Attentäter, die Brüder Kouachi, dort im Internat waren. Der Inhaber des „Café de Paris“, der sonst mühsam wöchentlich drei Exemplare absetzte, hatte die bestellten 40 innerhalb kürzester Zeit verkauft. In Deutschland werden die Exemplare wohl erst am Samstag erhältlich sein, die besten Chancen haben Interessenten in den großen Presseläden an Bahnhöfen und Flughäfen.
Die neue Ausgabe von "Charlie Hebdo" war in Frankreich innerhalb weniger Stunden vergriffen. In Deutschland ist sie voraussichtlich erst ab Samstag erhältlich.
Das Provokations- und Spottunternehmen einer Satirezeitschrift, das sonst einen kleinen Kreis Gleichgesinnter mit Witzen versorgt, bekommt durch den Blutzoll von heute auf morgen die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit. Auch darum überlegten die Redakteure und Zeichner lange, bis sie die Zeichnung vom weinenden Mohammed für die Seite eins bestimmt hatten. Nie hat im bald fünfzigjährigen Bestehen von Charlie Hebdo das Wort vom sich Totlachen eine so schrille Bedeutung angenommen wie bei diesem Heft.
„Eine atheistische Zeitung bewirkt mehr Wunder als alle Heiligen und Propheten zusammen“, beginnt darin Chefredakteur Biard seine Kolumne. Das Dilemma der Satiriker war, dass sie, obschon noch unter dem Schock des Dramas, keine Mahn- oder Gedenknummer, sondern eine neue Lachnummer machen wollten – das sei die beste Art, den toten Kollegen die Treue zu halten. Das Ergebnis: Die Mitarbeiter, die bisher nur Witz, Sex und groben Blödsinn im Kopf zu haben schienen, zeigen sich auf der Höhe ihrer Situation.
Das begann schon bei der Vorstellung der Titelseite noch vor dem Erscheinen in Paris. Schon wieder eine Mohammed-Karikatur, tut uns leid – schloss Luz bei der Vorstellung der Titelseite am Dienstag. Der oft grobschlächtige Humor hat sich hier zur vieldeutigen Anspielung verfeinert.
Auf der Schlussseite stellt Charlie Hebdo dann Zeichnungen vor, die bei der Schlussredaktionssitzung auf den Stapel der weggelegten Titelblattvorschläge kamen. In verzitterter Strichführung sind dort vom verletzten Zeichner Riss, der im Krankenhaus den Stift noch nicht richtig halten kann, ein Schwerarbeiter des Bleistifts mit heraushängender Zunge und darunter ein Terrorist mit Maschinengewehr zu sehen. „Zeichner bei Charlie Hebdo, das sind 25 Jahre Arbeit“, erklärt die Legende, Terroristen hingegen seien nur 25 Sekunden im Einsatz: lauter Wichser und Nichtsnutze.
Die spontane und weltweite Sympathiebekundung brachte die Charlie-Leute, so wohl sie ihnen tun mochte, auch in Verlegenheit. Ein Blatt von der Unverschämtheit wie das ihre konnte die Solidaritätserklärungen jener, die es jahraus, jahrein verspottet hatte, nicht einfach mit Dankbarkeit entgegennehmen, sondern musste mit Frechheit zurückschlagen, um glaubwürdig zu bleiben. Das ist im neuen Heft auch geschehen, jedoch ohne Geschmacklosigkeit. Auf einer Zeichnung sind Hollande, Sarkozy und eine Reihe anderer Politiker neben einer Ehrenwache mit gezücktem Schwert zu sehen, mit dem Kommentar: „Eine Schar Witzbolde verloren, zehn neue hinzugewonnen.“ In seiner Kolumne liefert Chefredakteur Gérard Biard gleichsam die Auslegung dazu. Die Freundschaftsbeweise, schreibt er, nähmen sie heute von allen Seiten entgegen, wohl wissend jedoch, dass man ihnen schon morgen wieder Provokation und Übertreibung vorwerfen würde.
Einen Wunsch für die Zukunft will die Charlie-Redaktion nach dem Drama dennoch äußern: dass aus „Je suis Charlie“ so viel wie „Je suis laïcité“ werde. Das ist verwegen. Denn gerade die Gegner solch einer vollkommenen Trennung von Staat und Kirche in allen Gesellschaftsbereichen waren bisher ihre besten Gegenspieler. Wie zur Bestätigung dieses Paradoxes wirkt eine Zeichnung vom getöteten Wolinski, die postum ins neue Heft aufgenommen wurde. Sie zeigt eine Prostituierte mit weit heruntergezogenem Höschen von hinten. „Weder Gott noch Herr“, ist auf ihre Haut tätowiert und daneben das Stichjahr 1905, das Jahr des Gesetzes zur Trennung von Kirche und Staat, mit einem Herzchen versehen. Dass auch dieses in Frankreich unverletzliche Prinzip eine Prostituierte ist, versteht die Charlie-Gemeinde als Kompliment: Das Strichmädchen ist eine der Lieblingsfiguren der Zeichner.
Die Mehrheit der Franzosen stimmt unter dem Eindruck des Attentats einstweilen noch mit dieser Ansicht überein und beweist es mit dem Sturm auf die Kioske. Der Kreis der Anhänger für solche Späße wird sich aber bald wieder auf das Maß der üblichen Auflagenhöhe verengen. Auch Biard scheint dies zu ahnen und lässt Papst Franziskus über seine Zeitschrift eine Botschaft zukommen: Sie nähmen auch das Glockengeläut von Notre-Dame gerne als Trost und Marketingmaßnahme an – aber nur, wenn ein Femen-Mädchen am Strick ziehe.
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Frechheit siegt
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