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Fromme Fluchten

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Am vergangenen Wochenende erlebte Frankreich zweierlei: die wohl größten Demonstrationen der Neuzeit und die Bestätigung, dass ein Riss durch die Gesellschaft geht: Die muslimische Bevölkerung blieb den Willenskundgebungen gegen den Terror meistens fern.



Am vergangenen Wochen zeigten die Menschen in Paris ihre Solidarität mit den Opfern der Anschläge. Trotz dieser Demonstration von Zusammenhalt geht in Wahrheit ein Riss durch Frankreichs Gesellschaft, meint unser Autor.

Das heißt nicht, dass sich keine Muslime unter den Demonstranten befanden. Die islamischen Würdenträger hatten zur Teilnahme aufgerufen. Und zahllose Personen aus muslimischen Familien waren von Anfang an bei den Trauerkundgebungen aktiv. Aber die meisten davon waren Muslime von der Art, wie ich Jude bin, in die Jahre gekommene Atheisten mit Linksdrall.

Ich wohne in Paris, aber mein Viertel im volkstümlichen Nordosten der Stadt hat so ziemlich alles zu bieten, darunter etliche „Cités“, ein Begriff, der sowohl die Sozialwohnbauten als auch ihre überwiegend franko-arabischen und franko-afrikanischen Mieter umfasst.

Am Sonntag also strömten die Familien der weißen Mittelschicht zu den Kundgebungen. Nur Leute aus den Sozialbauten waren kaum darunter. Dabei demonstrieren junge Franko-Araber und Franko-Afrikaner ebenso gern wie ihre übrigen Altersgenossen. Bei Schülerstreiks sind sie immer dabei. Aber ausgerechnet diesmal, wo wir sie besonders gern gesehen hätten, ließen sie uns hängen.

Dazu kamen unangenehme Meldungen: dass in einigen Cités Jugendliche Polizeistreifen mit dem Victory-Zeichen empfingen – auch in der Nähe des jüdischen Supermarkts, wo vier Kunden erschossen worden waren. Sie riefen den Beamten Drohungen zu wie etwa „Ihr kommt als Nächstes dran“. Eine Stufe milder erschien da die Haltung der Schüler, die die Schweigeminuten in ihren Klassen mit Pfiffen störten. Wahlweise behaupteten sie, hinter den Anschlägen stünde „ein von Israel gesteuertes Komplott“ oder, es habe gar keine Todesopfer im jüdischen Supermarkt gegeben, „sonst hätte man die Leichen im TV gesehen“. Einige Schüler lehnten die Schweigeminute mit der Begründung ab, Charlie Hebdo habe sich mit den Mohammed-Karikaturen eine solche „Bestrafung“ selber zuzuschreiben.

Nur wenige gingen so weit, und das ist ein Trost. Dass viele muslimische Jugendliche die Mohammed-Karikaturen nicht verwinden konnten, kann ich verstehen. Sie empfanden sie als eine weitere Kränkung ihrer Gemeinschaft – vor allem in Verbindung mit der allgemeinen Diskriminierung, etwa bei der Jobsuche. Und weil sie das Engagement von Charlie Hebdo gegen Diskriminierungen nicht wahrnehmen.

Es gab auch die Klage von muslimischen Jugendlichen, man würde mit zweierlei Maß messen, schließlich versuche die Staatsführung dem franko-kamerunischen Kabarettisten Dieudonné M’bala M’bala einen Riegel vorzuschieben. Am Mittwoch wurde er vorübergehend in Polizeigewahrsam genommen, später wieder freigelassen, aber es wurde ein Verfahren wegen „Verherrlichung des Terrorismus“ eingeleitet.

Der Vergleich hinkt freilich: Charlie Hebdo ist ein linkes Pazifistenblatt, das sich gegen jeden Rassismus erhob, während Dieudonné in seinen stets ausverkauften Auftritten den Holocaust leugnet und mit aggressiven Andeutungen eine potenziell tödliche Hetze gegen Juden betreibt. Am Tag des Pariser Marsches schrieb Dieudonné auf seiner Facebook-Seite, er verstehe sich als „Charlie-Coulibaly“ – der Name des Judenmörders im Supermarkt.

Seit dem Jahr 2000, unter dem Eindruck, besser gesagt dem Vorwand der zweiten palästinensischen Intifada sind Übergriffe gegen Juden stetig angewachsen. Was sich im übrigen Europa im letzten Sommer bei Protesten gegen den Krieg in Gaza äußerte, ist in Frankreich längst ein chronisches Phänomen, das mancherorts eine Vertreibung in Gang gebracht hat.

Frankreich ist jenes Land Europas mit den meisten Juden (geschätzte 500000) und den meisten Muslimen (fünf Millionen). Beide Gruppen stammen mehrheitlich aus den französischen Ex-Kolonien in Nordafrika und leben oft noch in den gleichen Vierteln. Das ging eine Zeitlang gut: Früher, als es noch wenige Halal-Restaurants gab, besuchten Muslime oft koschere Wirtshäuser, weil die jüdischen Nahrungsvorschriften denen des Islams ähneln. In vielen Fällen haben sich unter den älteren Einwanderern Freundschaften erhalten. Und wenn es früher zu Straßenschlachten zwischen tunesischen Juden und Muslimen kam, wie während des Sechstagekriegs 1967 im Pariser Migrantenviertel Belleville, dann standen sich zahlenmäßig vergleichbare Gruppen junger Männer gegenüber, die schließlich vom Pariser Oberrabbiner und dem tunesischen Botschafter gemeinsam beruhigt wurden.

Aber inzwischen sind die Juden in diesen Vierteln eine weit unterlegene Minderheit, ihr Einwandererstrom ist versiegt, während die Mehrheit der Muslime zusehends wächst. Die prekären Arbeitsverhältnisse und die Job-Krise haben das soziale Gefüge zerrüttet, die religiöse Radikalisierung hat einen Teil der muslimischen Jugend ergriffen. Die jüdischen Nachbarn mussten sich, wenn sie nicht wegzogen, auf Gelegenheitsübergriffe einstellen. Mal werden sie auf dem Weg zur Synagoge angespuckt, mal wird ein jüdischer Schulbus mit Steinen beworfen, mal prasseln auf einen jüdischen Kindergarten schwere Gegenstände aus umliegenden Hochbauten, sodass die Kinder nicht mehr im Hof spielen dürfen. Die Täter sind fast ausnahmslos junge Muslime.

Aber auch das nach außen hin prägende Erscheinungsbild der jüdischen Gemeinschaften hat sich gewandelt. Mit einer augenzwinkernden Mischung aus jüdischer Alltagsfrömmigkeit und mediterraner Lebensfreude hatten die ersten Generationen der Juden aus Tunesien beispielsweise Belleville zu einem pulsierenden attraktiven Viertel für junge Pariser gemacht. Die Begegnung mit diesem ungenierten Judentum war Balsam für die eher vorsichtigen europäisch-stämmigen jüdischen Familien, die den Holocaust überlebt hatten. Aber inzwischen, als Reaktion auf oder parallele Entwicklung zur Hyperkonfessionalisierung der Muslime, wurde ein beträchtlicher Teil der jüdischen Gemeinden von der ultrapietistischen Bewegung der Lubawitscher Chassiden erfasst.

Dass ausgerechnet eine Rigoristen-Bewegung, die auf eine aus der Ukraine stammende Rabbinerdynastie zurückgeht und seit dem Krieg aus New York ausstrahlt, bei jungen Juden aus nordafrikanischen Familien ungemein populär ist, mag paradox erscheinen. Es ist auch seltsam in Synagogen auf die Werke des deutschen Rabbiners Markus Lehmann zu stoßen, der sich im 19. Jahrhundert gegen das liberale Reformjudentum wandte und nach der Einführung der Orgel in der Mainzer Synagoge eine orthodoxe Separatgemeinde gründete. Aber auch europäisch-stämmige Rituale können einen exotischen Charme ausüben, und die jungen Juden, denen die tunesischen Traditionen ihrer Eltern fremd geworden sind, suchen - wie ihre muslimischen Altersgenossen - Halt in einer übergreifenden Gemeinschaft, die Gewissheiten und strenge Anweisungen bietet.

Das hat aber auch Auswirkungen im Kern der französischen Zivilgesellschaft. Bis Ende der 90er-Jahre überwog dort Sympathie mit der jüdischen Minderheit. Aktivisten mit jüdischen Wurzeln waren und sind zahlenmäßig stark vertreten. Nun aber ist diese Szene stärker denn je irritiert durch die israelische Siedlungspolitik und die konfessionellen Sonderwünsche des sichtbarsten Teils der französischen Juden. Während muslimische Eltern fordern, man möge in Schulkantinen kein Schweinefleisch mehr servieren (was häufig de facto bereits geschieht), verweigern jüdische Studenten Prüfungen an allen jüdischen Feiertagen. Oft kommt es zu Arrangements, aber viele Franzosen, und darunter auch die nicht-orthodoxe Mehrheit der Juden, fürchten eine Unterhöhlung der säkularen Republik.

Im selben Ausmaß, wie sich junge Juden hinter strengen Ritualen verschanzten, zogen jüdische Eltern ihre Kinder aus öffentlichen Schulen ab, wo sie Angriffen ausgesetzt waren. Auch jüdische Lehrer suchten Schutz in den rund 700 konfessionellen jüdischen Schulen Frankreichs. Aber dort sind sie besonders gefährdet. Spätestens seit dem Anschlag des jungen Franko-Algeriers Mohammed Merah auf eine jüdische Schule in Toulouse 2012, bei dem drei Kinder und ein Lehrer aus nächster Nähe erschossen wurden, ist den Juden auch klar geworden, dass ihre Nahbereichs-Peiniger zu hochgerüsteten Attentätern werden können. Die Brüder Chérif und Saïd Kouachi, die das Blutbad bei Charlie Hebdo verübten, absolvierten ihre islamistischen Lehrjahre in der Umgebung von Belleville, wo sie ursprünglich einen Angriff auf ein koscheres Restaurant geplant hatten, bevor ihr damaliger Dschihad-Rekrutierer sie überredete, stattdessen in den Irak kämpfen zu gehen.

Diese Bedrohung aus der Nachbarschaft hat nichts mit der französischen Mehrheitsbevölkerung zu tun und alles mit einer Jugendszene an der Schnittstelle zwischen Kriminalität und Dschihadismus – und sie lässt die Juden ans Auswandern denken. Nach dem Massaker im koscheren Supermarkt kam das halbe Regierungsteam zur Trauerkundgebung. Premierminister Manuel Valls improvisierte eine Rede: „Der Antisemitismus ist unerträglich. Frankreich ohne Juden wäre nicht Frankreich. Ihr seid die Seele dieses Landes.“ Die Menge rief „Bravo“ und sang die Marseillaise. Dann sagte ein Familienvater: „Ich habe täglich Angst um meine Kinder.“ Valls antwortete: „Man darf keine Angst haben.“ Wer kann das schon?


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