Ein Fall für Hirnforschung und Anatomie: Thomas Müller ist der erstaunlichste Fußballer des Landes. Seine schrägen Aktionen haben maßgeblich den besten Saisonstart der Bayern geprägt
Schon wieder so ein Thomas-Müller-Satz. Ein Satz, der verknotet klingt, aber trotzdem den Kern trifft. Ein Satz von so seltsamer Schönheit wie Müllers 2:0 am Samstag auf Schalke: erst durch die Beine - und dann ebenso schief wie präzise ins Tor. Ob er stolz sei, wurde Müller in einer Ecke des Gelsenkirchener Arena-Kellers gefragt, stolz auf seinen Saisonstart mit vier Treffern plus vier Torvorbereitungen in vier Ligaspielen? Klar ist Müller stolz. Aber er ist halt keiner, der so eine Vorlage jetzt quasi volley verwertet und einfach 'Klar bin ich stolz' sagt. Stattdessen knotet er los: 'Es freut mich natürlich, wenn"s läuft, auch wenn"s heute ja die meiste Zeit nicht so gelaufen ist.'
Man muss diesen Satz erst entwirren, aber dann hat man sie: die Begründung dafür, warum die Münchner Bayern nach diesem fast furchterregend abgeklärten 2:0 (0:0) bei Schalke 04 nicht nur mit zwölf Punkten an der Tabellenspitze stehen, sondern nach vier Partien auch das beste Torverhältnis (14:2) aufweisen, mit dem je ein Klub in die Saison gestartet ist. Weil sie diesen Müller in ihren Reihen haben, der die Gesetze der Physik auszuhebeln versteht, dem die Aggregatszustände der Materie ziemlich schnuppe sind. Dessen Spiel alles gleichzeitig sein kann: flüssig, zäh, gasförmig, bröckelhart. Bei dem es auch dann läuft, wenn es nicht läuft.
Jeder andere hätte sich beim Bayern-Trainer Jupp Heynckes jedenfalls für die sofortige Auswechslung empfohlen mit diesen beiden durchaus spektakulären Aktionen in der 51. und 53. Minute: Da kam zunächst ein feines Zuspiel von rechts, Müller brachte sich an der Strafraumgrenze in Position, nahm Maß - doch der Ball kullerte ihm über den Spann. Dann der nächste Bayern-Angriff, Müller lief sich auf der linken Seite frei, er bekam den Ball - doch beim Versuch, ihn anzunehmen, sprang er ins Aus. Es sah grotesk aus. Aber das gehört zu diesem Müller eben dazu: dass er in schlechten Momenten den Eindruck erweckt, als habe sich da ein Kreisligakicker in den Profikader verlaufen.
Es stand noch 0:0 zu diesem Zeitpunkt, die Schalker schienen gerade ihrerseits den Aggregatszustand zu wechseln (von eingeschüchtert-harmlos zu aufmüpfig-spielfreudig), aber Heynckes behauptete später, er habe trotz der Schnitzer 'keine Sekunde daran gedacht, Müller nicht weiterspielen zu lassen'. Er kennt ihn ja nicht anders. 'Beim Thomas gehört das zum Spiel, er hat unglückliche Situationen, ist nicht immer ballsicher, aber er ist unberechenbar, agil, laufstark - und er ist dafür dann ja auch belohnt worden.' Wieder mal, wie schon gegen Fürth (ein Tor beim 3:0), Stuttgart (zwei Tore, zwei Vorlagen beim 6:1) und Mainz (eine Vorlage beim 3:1). Thomas Müller ist bisher der Spieler der Saison bei den Bayern, was durchaus keine Selbstverständlichkeit war angesichts einer durchwachsenen, oft orientierungslosen Vorsaison. Und bei all den Konkurrenten (Robben, Ribéry, Kroos, Shaqiri), die den Raum hinter der Sturmspitze ebenfalls als ihr Terrain begreifen.
Eigentlich erstaunlich, dass bisher weder Anatomie-Professoren noch Hirnforscher den Antrag gestellt haben, diesen Müller im turnierfreien Sommer 2013 mal umfassend vermessen und kartografieren zu dürfen. Man könnte über diesen Müller, würde man mal seine dünnen, sehnigen Beinchen und seine mutmaßlich einzigartigen Hirnströme ins Verhältnis setzen, ein paar bahnbrechende Forschungsarbeiten verfassen. Thema: Die erfreulich irren Launen der Natur. Es gibt zwar bereits ein paar empirische Erkenntnisse dazu, die stammen allerdings von Thomas Müller selbst, der gerne damit kokettiert, dass 'wohl niemand auf der Welt so komisch Fußball spielt wie ich'. Und der auch sehr unterhaltsam davon erzählen kann, wie er schon in der Jugend beim TSV Pähl am Ammersee oft den ungewöhnlichen Weg am Gegenspieler vorbei probieren musste - weil ihm für den gewöhnlichen die Muskelkraft fehlte. Aber das erklärt ja noch nicht diesen Instinkt für den richtigen Laufweg. Und es beantwortet auch nicht die Frage, wie man mit so einem Charlie-Chaplin-Laufstil effektiver dribbeln kann als einst die O-Bein-Gurus Littbarski und Häßler zusammen.
'Ich bin ein Raumdeuter', sagt Müller dazu. Vielleicht sollte auch die Nasa mal ein paar Untersuchungen vornehmen.
Die zwei Szenen vom Samstag, welche auf die zwei Stolperer folgten, müssten dann mit einbezogen werden. Wie Müller zunächst Toni Kroos das 1:0 auflegte (55.), mit einem Zuspiel aus dem Gewühl heraus. Und natürlich sein Treffer zum 2:0 (58.), als sich Müller den Ball nahe der Eckfahne schnappte, Christian Fuchs tunnelte, Julian Draxler auf Distanz hielt und schließlich Joel Matip damit überraschte, dass er gar nicht erst versuchte, ihn zu verladen, um sich in eine aussichtsreiche Schussposition zu bringen. Sondern einfach aus aussichtsarmer Position drauf schoss - ins Tor. Wenn man Müller richtig verstanden hat, ist dieser Treffer einfach so über ihn gekommen, er konnte sich später jedenfalls nicht mehr an Details erinnern. Nur, 'dass da das Kind in mir durchgekommen ist', das erschien ihm offensichtlich. 'Das ist eben der Vorteil als Offensivspieler', sagte Müller: 'Manchmal läuft gar nichts und du kannst 89 Minuten scheiße spielen, aber wenn du dann ein, zwei gute Aktionen hast, ist alles wieder in Ordnung.'
Man weiß inzwischen, dass dieser Müller irgendwie anders ist, spätestens, seit er bei der WM 2010 in Südafrika als Nobody bester Torschütze wurde. Aber darauf einstellen kann man sich deshalb noch lange nicht. Und wenn die Bayern im Mittelfeld weiter so unberechenbar die Positionen wechseln wie gegen Schalke, dann dürfte es für die Gegner noch schwieriger werden. Es ist dann, als wolle man sich in der Geisterbahn gegen all die furchterregenden Gestalten wappnen. Man ahnt: Von irgendwoher kommt gleich die nächste böse Überraschung. Aber von wo?
Schon wieder so ein Thomas-Müller-Satz. Ein Satz, der verknotet klingt, aber trotzdem den Kern trifft. Ein Satz von so seltsamer Schönheit wie Müllers 2:0 am Samstag auf Schalke: erst durch die Beine - und dann ebenso schief wie präzise ins Tor. Ob er stolz sei, wurde Müller in einer Ecke des Gelsenkirchener Arena-Kellers gefragt, stolz auf seinen Saisonstart mit vier Treffern plus vier Torvorbereitungen in vier Ligaspielen? Klar ist Müller stolz. Aber er ist halt keiner, der so eine Vorlage jetzt quasi volley verwertet und einfach 'Klar bin ich stolz' sagt. Stattdessen knotet er los: 'Es freut mich natürlich, wenn"s läuft, auch wenn"s heute ja die meiste Zeit nicht so gelaufen ist.'
Man muss diesen Satz erst entwirren, aber dann hat man sie: die Begründung dafür, warum die Münchner Bayern nach diesem fast furchterregend abgeklärten 2:0 (0:0) bei Schalke 04 nicht nur mit zwölf Punkten an der Tabellenspitze stehen, sondern nach vier Partien auch das beste Torverhältnis (14:2) aufweisen, mit dem je ein Klub in die Saison gestartet ist. Weil sie diesen Müller in ihren Reihen haben, der die Gesetze der Physik auszuhebeln versteht, dem die Aggregatszustände der Materie ziemlich schnuppe sind. Dessen Spiel alles gleichzeitig sein kann: flüssig, zäh, gasförmig, bröckelhart. Bei dem es auch dann läuft, wenn es nicht läuft.
Jeder andere hätte sich beim Bayern-Trainer Jupp Heynckes jedenfalls für die sofortige Auswechslung empfohlen mit diesen beiden durchaus spektakulären Aktionen in der 51. und 53. Minute: Da kam zunächst ein feines Zuspiel von rechts, Müller brachte sich an der Strafraumgrenze in Position, nahm Maß - doch der Ball kullerte ihm über den Spann. Dann der nächste Bayern-Angriff, Müller lief sich auf der linken Seite frei, er bekam den Ball - doch beim Versuch, ihn anzunehmen, sprang er ins Aus. Es sah grotesk aus. Aber das gehört zu diesem Müller eben dazu: dass er in schlechten Momenten den Eindruck erweckt, als habe sich da ein Kreisligakicker in den Profikader verlaufen.
Es stand noch 0:0 zu diesem Zeitpunkt, die Schalker schienen gerade ihrerseits den Aggregatszustand zu wechseln (von eingeschüchtert-harmlos zu aufmüpfig-spielfreudig), aber Heynckes behauptete später, er habe trotz der Schnitzer 'keine Sekunde daran gedacht, Müller nicht weiterspielen zu lassen'. Er kennt ihn ja nicht anders. 'Beim Thomas gehört das zum Spiel, er hat unglückliche Situationen, ist nicht immer ballsicher, aber er ist unberechenbar, agil, laufstark - und er ist dafür dann ja auch belohnt worden.' Wieder mal, wie schon gegen Fürth (ein Tor beim 3:0), Stuttgart (zwei Tore, zwei Vorlagen beim 6:1) und Mainz (eine Vorlage beim 3:1). Thomas Müller ist bisher der Spieler der Saison bei den Bayern, was durchaus keine Selbstverständlichkeit war angesichts einer durchwachsenen, oft orientierungslosen Vorsaison. Und bei all den Konkurrenten (Robben, Ribéry, Kroos, Shaqiri), die den Raum hinter der Sturmspitze ebenfalls als ihr Terrain begreifen.
Eigentlich erstaunlich, dass bisher weder Anatomie-Professoren noch Hirnforscher den Antrag gestellt haben, diesen Müller im turnierfreien Sommer 2013 mal umfassend vermessen und kartografieren zu dürfen. Man könnte über diesen Müller, würde man mal seine dünnen, sehnigen Beinchen und seine mutmaßlich einzigartigen Hirnströme ins Verhältnis setzen, ein paar bahnbrechende Forschungsarbeiten verfassen. Thema: Die erfreulich irren Launen der Natur. Es gibt zwar bereits ein paar empirische Erkenntnisse dazu, die stammen allerdings von Thomas Müller selbst, der gerne damit kokettiert, dass 'wohl niemand auf der Welt so komisch Fußball spielt wie ich'. Und der auch sehr unterhaltsam davon erzählen kann, wie er schon in der Jugend beim TSV Pähl am Ammersee oft den ungewöhnlichen Weg am Gegenspieler vorbei probieren musste - weil ihm für den gewöhnlichen die Muskelkraft fehlte. Aber das erklärt ja noch nicht diesen Instinkt für den richtigen Laufweg. Und es beantwortet auch nicht die Frage, wie man mit so einem Charlie-Chaplin-Laufstil effektiver dribbeln kann als einst die O-Bein-Gurus Littbarski und Häßler zusammen.
'Ich bin ein Raumdeuter', sagt Müller dazu. Vielleicht sollte auch die Nasa mal ein paar Untersuchungen vornehmen.
Die zwei Szenen vom Samstag, welche auf die zwei Stolperer folgten, müssten dann mit einbezogen werden. Wie Müller zunächst Toni Kroos das 1:0 auflegte (55.), mit einem Zuspiel aus dem Gewühl heraus. Und natürlich sein Treffer zum 2:0 (58.), als sich Müller den Ball nahe der Eckfahne schnappte, Christian Fuchs tunnelte, Julian Draxler auf Distanz hielt und schließlich Joel Matip damit überraschte, dass er gar nicht erst versuchte, ihn zu verladen, um sich in eine aussichtsreiche Schussposition zu bringen. Sondern einfach aus aussichtsarmer Position drauf schoss - ins Tor. Wenn man Müller richtig verstanden hat, ist dieser Treffer einfach so über ihn gekommen, er konnte sich später jedenfalls nicht mehr an Details erinnern. Nur, 'dass da das Kind in mir durchgekommen ist', das erschien ihm offensichtlich. 'Das ist eben der Vorteil als Offensivspieler', sagte Müller: 'Manchmal läuft gar nichts und du kannst 89 Minuten scheiße spielen, aber wenn du dann ein, zwei gute Aktionen hast, ist alles wieder in Ordnung.'
Man weiß inzwischen, dass dieser Müller irgendwie anders ist, spätestens, seit er bei der WM 2010 in Südafrika als Nobody bester Torschütze wurde. Aber darauf einstellen kann man sich deshalb noch lange nicht. Und wenn die Bayern im Mittelfeld weiter so unberechenbar die Positionen wechseln wie gegen Schalke, dann dürfte es für die Gegner noch schwieriger werden. Es ist dann, als wolle man sich in der Geisterbahn gegen all die furchterregenden Gestalten wappnen. Man ahnt: Von irgendwoher kommt gleich die nächste böse Überraschung. Aber von wo?