In Italien nennen sie es „Massaker der Immigration“. Zwischen den Küsten Libyens und Lampedusas sind in den vergangenen Tagen bei stürmischem, eiskaltem Winterwetter und hohem Wellengang wahrscheinlich viel mehr Menschen umgekommen als bisher angenommen. Zunächst war Italiens Küstenwache einem Flüchtlingsboot mit 106 Insassen zu Hilfe geeilt. Sieben Passagiere waren schon tot, erfroren, als die Helfer sie erreichten. 22 starben auf dem langen Rückweg nach Lampedusa an Unterkühlung.
Leichenwagen stehen am Hafen von Lampedusa Schlange für diejenigen, die die Überfahrt aus Afrika nicht überlebt haben.
Das war aber nur eines von drei oder gar vier Schiffen, die etwa zur selben Zeit und in denselben Gewässern in Seenot gerieten. Auf zwei großen Schlauchbooten fanden Helfer zwei, respektive sieben Überlebende. Sie erzählten, auf jedem Boot seien je 100 Flüchtlinge gesessen. Ein Boot habe sich in neun Meter hohen Wellen überschlagen, das andere verlor Luft. Die Geretteten überlebten wie durch ein Wunder, festgeklammert am Rest der Boote. Sie berichteten von einem vierten Gefährt, auch mit 100 Personen, das gekentert sei. Addiert man diese Zahlen, könnte das „Massaker der Immigration“ mehr als 300 Opfer gefordert haben.
Das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR, bestätigte Berichte der Überlebenden. „Neun haben überlebt, nach vier Tagen im Meer“, sagte Carlotta Sami, Sprecherin des UNHCR, „203 wurden verschluckt von den Wellen.“ Sie sprach von einer „schrecklichen, enormen Tragödie“. Die Zahl der Opfer der vergangenen Tage bezifferte sie zunächst auf 232.
Die neuen Dramen im Mittelmeer bestätigen, dass der Flüchtlingsstrom nicht abnimmt, wie man das in Europa nach Beginn der Mission Triton erwartet hatte, sondern zunimmt. Das Programm Triton der EU-Grenzagentur Frontex ersetzte im Herbst Italiens humanitäre Operation Mare Nostrum, mit der 130 000 Menschen geborgen worden waren. Triton soll vor allem Europas südliche Grenzen sichern. Mit 2,9Millionen Euro im Monat macht das Budget nur ein Drittel des der italienischen Mission aus. Auch der Aktionsradius der Frontex-Mission ist kleiner: Die Triton-Schiffe patrouillieren in einer 30-Meilen-Zone vor den EU-Küsten. Italiens Marine kreuzte für Mare Nostrum in internationalem Gewässern, bis hart vor der Küste Libyens.
Abschreckend wirkt Triton nicht. Im Vergleich zum Vorjahr, das ein Rekordjahr war, nimmt die Zahl der Flüchtlinge in den Wintermonaten gar zu. Grund sind die Konflikte in Nahost, am Horn von Afrika und in der Sahelzone. Schlepperbanden schrecken nicht davor zurück, Menschen bei Sturm und Kälte in Boote zu setzen. Und bei vielen ist die Verzweiflung so groß, dass sie die Gefahr auf sich nehmen.
In Italien wird die Forderung laut, Europa müsse den Umgang mit Flüchtlingen überdenken. Im Frühling und im Sommer werden noch mehr Hoffnungsreisende die Flucht über die Straße von Sizilien wagen. Außenminister Paolo Gentiloni sagte: „Es gibt keine Zweifel, dass Triton nur sehr beschränkte Mittel hat. Die Mission genügt nicht, sie ist nur ein Anfang. Unsere Operation Mare Nostrum war bemerkenswert – nun gilt es, sie zu europäisieren.“ Auch der Papst verlangte Solidarität.
Ob das schnellen Effekt auf die Politik hat, ist fraglich. Domenico Manzione, italienischer Innenstaatssekretär, sagt in München der SZ, er sei Anhänger von Mare Nostrum. Als seine Regierung die Operation 2013 nach der Schiffskatastrophe vor Lampedusa mit mehr als 360 Opfern beschloss, sei das eine „Kehrtwende der Politik“ gewesen – der humanitäre Aspekt rückte in den Vordergrund, nicht mehr die Abwehr von Flüchtlingen. Aber man könne nicht zurück zu der Operation. Das sei in der EU nicht gewollt, und auch in Italien gab es Kritik. Der Haupteinwand, den auch der deutsche Innenminister Thomas de Maizière teilt, ist, dass Mare Nostrum Schleuser und Flüchtlinge ermuntert habe, weil sie sich auf die Retter aus Italien verließen.
Manzione sagt aber: Mit Triton seien es nicht weniger geworden. Küstenwache und Seekräfte der Guardia di Finanza würden weiter alles tun, um Flüchtlinge zu retten. Nur große Marineschiffe seien nicht mehr im Einsatz, die mehr als 1000 Menschen aufnehmen konnten. Manzione sagt, er wolle sich gar nicht auf die Alternativen Mare Nostrum oder Triton beschränken, es brauche ganz andere Maßnahmen. Fast alle Migranten, die in Italien landen, kämen nicht aus wirtschaftlichen Gründen, sondern seien vor Krieg und Verfolgung geflohen. Damit sie nicht auf lebensgefährliche Überfahrten gehen, müssten mit den Transitländern des südlichen Mittelmeers Vereinbarungen getroffen werden, um dort Aufnahmezentren einzurichten. Dort sollen sie Asyl beantragen können. Dafür hat Italien die Initiative schon ergriffen. Libyen, ein wichtiges Ausgangsland, hat allerdings praktisch keine staatliche Ordnung. So ahnt man, dass solche Pläne dort vorläufig wenig realistisch sind. Und für dieses Modell müsste das Dublin-Abkommen der EU geändert werden, um Asylanträge in Drittländern zu ermöglichen, auch darauf weist Manzione hin.
Auch die Grünen-Europa-Abgeordnete Barbara Lochbihler hält Aufnahmezentren für eine gute Idee. Nur seien derzeit allenfalls Tunesien und Marokko mögliche Partner. Doch bezweifelt Lochbihler, ob selbst in diesen Ländern akzeptable Rechtsverfahren garantiert seien.
Was also soll geschehen, bis ein Auffangsystem auf der anderen Seite des Mittelmeers funktioniert? Da blickt Lochbihler, wie sie sagt, „entmutigt auf die Politik“. Im Menschenrechtsausschuss des EU-Parlaments befasst sie sich mit Flüchtlingsfragen. Für sie sei ein Unglück wie jetzt vor Libyens Küste vorhersehbar gewesen, sagt sie der SZ. Ihr fehlt „die politische Ernsthaftigkeit“ der EU-Staaten, sich der humanitären Seite anzunehmen. Wer dem Ende von Mare Nostrum zustimmte, habe in Kauf genommen, dass es mehr Tote geben werde. Nach der Katastrophe 2013 seien die EU-Spitzen nach Lampedusa gereist, sie versprachen, solchen Tragödien entgegenzuwirken. Der Europarat setzte eine „Task Force Mediterranean“ ein, es entstand ein Plan mit fünf Punkten. Drei Punkte betrafen Grenzsicherung und Abwehr, zwei weitere Sicherheit und Rechte der Flüchtlinge. Resigniert sagt Lochbihler: „Bei der EU-Innenministerkonferenz im Oktober 2014 lagen nur noch die drei Vorschläge vor, die Abwehrmaßnahmen betrafen.“
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"Massaker der Immigration"
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