Eddie Ray Routh war plötzlich ein Sorgenkind. Es fiel seiner Mutter im Sommer 2010 auf, als die Familie beim Zelten war. Eddie versuchte damals, in den Alltag zurückzufinden. Nach dem Schulabschluss hatte er vier Jahre lang als US-Marineinfanterist im Irak gedient und nach dem Erdbeben in Haiti geholfen. Doch er schien auch im Kreis seiner Familie keinen Halt zu finden. Er trank zu viel Alkohol, manchmal schon zum Frühstück.
Einmal stellte sich die Familie für Erinnerungsfotos auf eine Brücke über einem reißenden Fluss, und Eddies zwölfjähriger Cousin nahm seine Nichte auf den Arm, sie war noch ein Baby. Unvermittelt schrie Eddie seinen jungen Cousin an, hielt ihm vor, er lasse das Baby ins Wasser fallen. Er war so besessen von der Idee, dass seine Ausbrüche den ganzen Abend andauerten, bis er weinend in sich zusammenbrach. Seine Mutter Jodi hat die Anekdote der Autorin Laura Beil erzählt, sie steht in Beils Buch „The enemy within“ – der innere Feind.
Seit Mittwoch steht der Veteran Eddie Routh, 27, nun vor einem Strafgericht in Texas. Er ist angeklagt wegen Mordes: Am 2.Februar 2013 soll er den Veteranen Chris Kyle und dessen Freund Chad Littlefield erschossen haben. Der Fall erregt Aufsehen, weil Kyle, eines der Opfer, ein Nationalheld war: Als langjähriger Scharfschütze der Elite-Einheit Navy Seals soll er im Irak-Krieg 160 Menschen erschossen haben, er gilt deswegen als tödlichster Schütze der US-Militärgeschichte. Ein Film über sein Leben, „American Sniper“, läuft mit großem Erfolg in den Kinos. Der Film zeigt Kyle, wie er im Irak auf Hausdächern liegt und seinen Kameraden unten auf der Straße Rückendeckung gibt. Nähert sich ihnen ein Feind, drückt der Scharfschütze ab.
In seiner Autobiografie beschreibt Kyle die damaligen Aufständischen als das „schiere, unbeschreibliche Böse“. Deswegen „nannten viele Militärangehörige, ich eingeschlossen, unsere Feinde Wilde. Ich bedaure nur, nicht noch mehr Feinde erschossen zu haben. Nicht, um damit prahlen zu können, sondern weil ich glaube, dass die Welt ein besserer Ort ist ohne diese Wilden, die einzig darauf aus sind, Amerikanern das Leben zu nehmen.“
Doch am Ende ist es keiner dieser „Wilden“, der Kyle das Leben nimmt, sondern ein Kamerad, und nicht im Irak, sondern im Landkreis Erath in Texas, wo Kyle aufgewachsen ist und wo er zuletzt mit seiner Frau und Kindern lebte. Der Film endet damit, dass Kyle das Haus verlässt, er sagt, dass er einem Veteranen helfen wolle, der Probleme habe. Der Strafprozess wirkt nun wie die Fortsetzung des Films: Im wahren Leben tritt jetzt der Mann auf, der Kyle erschossen hat – Eddie Ray Routh.
Er trägt einen Nadelstreifenanzug und sieht ganz anders aus als auf den Polizeifotos von vor zwei Jahren; sein Haar ist jetzt kurz rasiert, er trägt keinen Bart mehr, dafür aber eine Brille, und er hat deutlich zugenommen. Sein Verteidiger Tim Moore plädiert auf nicht schuldig. Er räumt ein, dass Routh der Täter ist, beteuert aber, dass Routh unter einer solch schweren Psychose litt, dass er schlicht nicht zurechnungsfähig war. „Er stellte sich damals vor: entweder ich oder die. Er musste sie töten, denn in seiner Psychose dachte er, dass sie sonst ihn töten würden“, sagt der Anwalt zu den Geschworenen. „Sie werden feststellen, dass Eddie Routh während der Tat wahnsinnig war.“
Die USA haben Ende 2011 ihre letzten Kampftruppen aus dem Irak abgezogen, aber viele Veteranen kämpfen bis heute mit den Gespenstern der Kriegsjahre. Tausende leiden unter einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS). Im Jahr 2012 starben 350 US-Soldaten durch Suizid, mehr als beim Kampf in Afghanistan. Immer wieder verüben Soldaten auch Gewalt gegen andere. Im April vor einem Jahr lief der Irak-Veteran Ivan Lopez im texanischen Fort Hood Amok, er tötete drei Menschen, bevor er sich das Leben nahm.
Auch der Kriegsheld Chris Kyle hat beschrieben, dass ihn der Krieg an den Rand des Wahnsinns getrieben hat. Wenn er zwischen zwei Einsätzen zu seiner Familie zurückkehrte, wirkte er mal abwesend, mal geriet er aus nichtigem Anlass außer sich. Er und seine Frau Taya haben oft davon erzählt, wie der Krieg sie entfremdete, und wie er beinahe ihre Ehe zerstört hätte. Kyle hat sich dann gefangen, und weil er die Seelenqualen kannte, die der Krieg hinterlässt, wollte er Veteranen dabei helfen, in die Normalität zurückzufinden.
Als er eines Tages seine Kinder an der Grundschule von Midlothian im Norden von Texas absetzte, sprach ihn eine Mitarbeiterin der Schule an und fragte, ob er helfen könne. Es war Jodi Routh, die Mutter von Eddie. Chris Kyle soll gesagt haben, er werde alles tun, um ihrem Sohn zu helfen. Die Mutter soll geweint haben, weil sie seit einem Jahr auf solche Worte gewartet hatte, ohne sie je zu hören. Ihr Sohn soll vor allem unter dem Einsatz in Haiti gelitten haben, inzwischen hatte man bei ihm nicht nur PTBS festgestellt, sondern auch Schizophrenie. Sein Zustand hatte sich seit 2010 stetig verschlechtert. Ein halbes Jahr vor der Tat hatte ihn die Polizei bereits einmal festgenommen, er lief halbnackt auf der Straße, weinte, roch nach Alkohol. Seine Mutter erklärte später, sein Vater habe gedroht, ihm die Waffe wegzunehmen. Eddie habe das Haus mit den Worten verlassen, er werde sich „das Gehirn wegpusten“.
In einem psychiatrischen Krankenhaus in Dallas warnten die Ärzte, er sei gefährlich für sich und andere, und sie überwiesen ihn an eine Einrichtung für Veteranen. Dort allerdings wurde er Tage später entlassen, offenbar gegen den Widerstand seiner Mutter. Das Pentagon hat das Problem psychischer Spätfolgen zwar erkannt und gibt jedes Jahr Hunderte Millionen Dollar aus, um Veteranen zu behandeln. Aber das System ist nach zehn Jahren Krieg völlig überlastet. Routh war offensichtlich schizophren, einmal bedrohte er seine Freundin mit einem Messer und forderte sie auf, leise zu sprechen, weil jemand zuhöre. Trotzdem bekam er keine Hilfe.
Schließlich erbarmte sich der frühere Scharfschütze Chris Kyle. Nirgendwo in den USA wird Kyle so verehrt wie im nördlichen Texas. Der Trauerzug nach seinem Tod endete im Football-Stadion der Dallas Cowboys. Kyle galt hier nicht nur als Kriegsheld, sondern auch als Lokalpatriot, er verkörperte die Liebe zu Rodeo und Schusswaffen. Im Städtchen Stephenville, wo nun der Prozess stattfindet, werden Baseball-Mützen zu Ehren Kyles verkauft, der Film „American Sniper“ läuft im Kino. Manche Anwohner klagen darüber, dass die Staatsanwaltschaft nicht die Todesstrafe verlangt habe gegen Routh. Dessen Verteidiger wiederum haben beantragt, den Prozess zu verschieben: Der Kinofilm, die allgemeine Bewunderung für Kyle ließen es nicht zu, dass die Geschworenen unbefangen entscheiden könnten. Das Gericht hat den Antrag abgelehnt.
Am letzten Tag seines Lebens ist Chris Kyle mit seinem Freund Chad Littlefield zu einem Schießstand gefahren. Der hilfsbedürftige Eddie Routh saß auf der Rückbank. Kyle stellte sich vor, dass er bei einer gemeinsamen Schießübung ein Verhältnis zu Routh aufbauen könne. Er setzte diesen Plan fort, obwohl er schon während der Autofahrt begriff, wie krank Routh wirklich war. „Dieser Kerl ist echt völlig durchgeknallt“, schrieb er per SMS seinem Freund Chad, der neben ihm saß. Chad hielt den Fahrgast sogar für gefährlich, und womöglich war es nicht bloß ein Spaß, dass er Kyle zurückschrieb: „Er sitzt direkt hinter mir. Gib mir Rückendeckung.“
Eine Stunde später feuerte Eddie Routh insgesamt 13 Schüsse auf Chris Kyle und Chad Littlefield ab.
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Tödliche Traumata
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