Zur Altstadt?“ Die freundliche Verkäuferin im gut sortierten Bahnhofsbuchladen erklärt den Weg. „Geradeaus den Berg rauf, an der Kreuzung rechts.“ Dort weist ein Schild zum historischen Zentrum, gegenüber geht es zur Baustelle „Wohnen am Traubenkeller“, wo barrierefreie Energieeffizienzhäuser entstehen. Günzburg ist eine von 16 Modellkommunen in Bayern, die im Auftrag der Bayerischen Staatsregierung erproben, was man tun kann in Sachen Barrierefreiheit.
Herausforderungen gibt es genug, im Grunde zählt dazu die gesamte Altstadt mit ihrem Schmuckstück, dem 250 Meter langen Straßenplatz, der zum unteren Tor, dem sogenannten Stadtturm, sanft abfällt. Farbige Fassaden, grobes Kopfsteinpflaster für die Autos, feineres für die Fußgänger. Die Stadt hat sich herausgeputzt. Günzburg steht für viele Kommunen: Es gibt eine bildhübsch renovierte Altstadt, historische Häuser ohne Lift, viele Läden mit Stufen und noch mehr Kopfsteinpflaster, dafür zu wenig barrierefreien Wohnraum.
Günzburg hat jedoch den demografischen Wandel angenommen und begonnen, die Stadt umzubauen. Seit 2013 verbindet der Aufgang Turniergarten Ober- und Unterstadt. In Serpentinen schlängelt er sich über den Schlossberg und überwindet gut zehn Meter Höhenunterschied. Wer will, kann natürlich die zentrale Treppe mit Fahrradrampe nehmen, die schnurgerade nach oben führt. Der neue Weg von den Günzauen hinauf zum Schloss mit seinen Bänken und Sitzblöcken ist Teil des städtebaulichen Entwicklungskonzepts für die Günzburger Vorstadtbereiche. Er wurde innerhalb des seit 2008 laufenden Städtebauförderungsprogramms „Leben findet Innenstadt – Aktive Zentren“ mit Mitteln des Bundes und des Freistaates Bayern in Höhe von 300000 Euro gefördert. Ziel der Initiative ist es, „lebendige Dörfer, Märkte und Städte“ zu schaffen, mit „zukunftsfähigen Standorten für Wirtschaft, Einzelhandel, Dienstleistung und lebenswerten Wohnquartieren“, wie es in der Präambel des Programms heißt. Stadtbaumeister Georg Dietze ist überzeugt: „Mit dem Aufgang konnten wir zeigen, dass eine Maßnahme zur Barrierefreiheit gleichzeitig ein schönes und einladendes Bauwerk sein kann.“ Tatsächlich fällt gar nicht groß auf, dass der Weg barrierefrei angelegt wurde. „Angebote müssen so selbstverständlich integriert sein, dass der zusätzliche Komfort gerne angenommen wird“, sagt Dietze.
Barrierefreiheit geht weit über Gehwegabsenkungen und einige Rampen hinaus. „Entscheidend sind Barrieren im Kopf“, sagt der Stadtbaumeister. Es gebe zwar neue DIN-Vorschriften und Vorgaben, viel wichtiger aber sei „die Sensibilisierung der Planer und Verantwortlichen für die Probleme und Bedürfnisse der Betroffenen.“ Dietze geht mit gutem Beispiel voran. Ohne Dialog geht nichts mehr in Günzburg. Bei Begehungen sucht er den Kontakt zu Betroffenen, will wissen, was sie wollen und wie er helfen kann. In der Regel sei es kostengünstiger, „die Belange zu Beginn der Planungen zu berücksichtigen. Da haben wir noch viel zu lernen. Wir wollen zukünftig Planungen frühzeitig mit den Betroffenen abstimmen.“
In den vergangenen Jahren wurde in Bayern bereits einiges getan, um Barrieren abzubauen. Gehwegsabsenkungen, Lifte und Rampen für öffentliche Gebäude, Leitsysteme und Maßnahmen waren aber stets eingebunden in andere, größere Projekte der Stadtsanierung. Mellrichstadt in Unterfranken, Regen in Niederbayern und Landsberg am Lech in Oberbayern etwa sind inzwischen anerkannte Vorreiter in Sachen Barrierefreiheit.
Städtebauförderung bildete hier den finanziellen Anschub, die Initiative gelang, weil sie von Bürgern ausging und von der Politik am Ort. Das könnte ermutigen, die Herausforderungen einer Gesellschaft anzupacken, die „älter, bunter und weniger“ wird, wie es der Berliner Stadtsoziologe Hartmut Häußermann einmal ausdrückte. Hier braucht es Fingerspitzengefühl und Dialogbereitschaft, denn nicht alle Anforderungen passen zusammen. Eine Tastkante etwa hilft Blinden und Sehbehinderten, kann aber für Rollatorbenutzer und Rollstuhlfahrer eine Hürde sein. Im Sommer stehen womöglich Tische und Stühle auf einem Platz – und verdecken eine Leitlinie, die der Orientierung dient. Da ist Pragmatismus gefragt, echtes Miteinander.
Antworten aus dem Standardbaukasten, etwa die vom Busbahnhof und vom Bahnsteig bekannten Noppen- und Rillenplatten, sind wenig hilfreich. Zum Glück schreibt die neue DIN 1803, Teil drei, nicht mehr eine einzige Lösung vor, sondern lässt gleichwertige Alternativen zu. Die Verantwortung wächst, aber auch die Herausforderung, gemeinsam nach Lösungen zu suchen. Das neue Leitbild der Stadt hat sich weit entfernt von dem, was heute noch vielerorts üblich ist. Im Zentrum steht die fußläufige und barrierefreie Nahversorgung – vom Quartiersladen bis hin zur ärztlichen Versorgung. Siedlungen der Sechziger- bis Achtzigerjahre des vergangenen Jahrhunderts haben es zunehmend schwerer: kaum Nahversorgung oder Ärzte, wenige Freizeitangebote in der Nähe, schlechte Verkehrsanbindung.
Sind diese Quartiere etwa reif für den Abbruch? Die Münchner Stadtplanerin Manuela Skorka beruhigt: „Nein, das sind sie nicht.“ Trotzdem findet sie es problematisch, dass in der Peripherie in alten Siedlungsgebieten oft Menschen, deren Kinder ausgezogen sind, und alleinstehende ältere Menschen verbleiben, während gleichzeitig immer neue Baugebiete ausgewiesen werden. Skorka regt augenzwinkernd einen Tausch an – und neue Gemeinschaften: Junge Familien könnten in die alten Häuser ziehen und deren Bewohner in die Stadt. Oder sie bleiben und erhalten so wieder Familienanschluss. Skorka möchte „Alternativen aufzeigen“. Familien würden kleiner, Netzwerke brächen auseinander. Umso wichtiger sei es, frühzeitig über gute Nachbarschaften nachzudenken.
Städte haben so manchen Wandel mitgemacht. Treppen, Gassen und Bordsteine passen nun nicht mehr zu einer barrierefreien Umwelt, zu Inklusion und zur Teilhabe aller. Geld alleine wird den Wandel nicht stemmen. Alle müssen mitmachen, und das geht nur, wenn die richtigen Anreize gesetzt werden.
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Mehr Miteinander
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