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Wenn ein Kneipenabend zum Luxus wird

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Fast 13 Millionen Menschen gelten in Deutschland als armutsgefährdet. Das ist immerhin fast jeder Sechste. Nun gibt es Menschen, die behaupten in einer Industrienation wie Deutschland gebe es keine Armut mehr. Von vier Euro am Tag könne man schließlich gut essen und gegen die Kälte in der Wohnung einen Pullover überziehen. Was also heißt das überhaupt, arm sein? Ist nur der arm, dessen Geld kaum reicht, um jeden Tag ausreichend auf dem Teller zu haben? Der, der sich keine eigene Wohnung mehr leisten kann? Oder auch der, der kein Internet hat, keinen Fernseher und kein Telefon?



In Deutschland waren im Jahr 2013 16 Prozent der Einwohner armutsgefährdet.

Die entscheidende Grenze liegt in Europa bei 60 Prozent des mittleren Einkommens der Gesamtbevölkerung, das sind hierzulande momentan 979 Euro netto im Monat. Wer weniger hat, gilt als von Armut bedroht, ihm bleiben am Tag also etwas mehr als 30 Euro. Im Verhältnis zur Armutsgrenze der Weltbank von 1,25 US-Dollar, also etwa einem Euro, ist das viel. Die beiden Definitionen von Armut, die den beiden Beträgen zugrunde liegen, unterscheiden sich in einem wesentlichen Punkt: Die deutsche und europäische Armutsgrenze ist relativ, arm ist man im Verhältnis zu den anderen. Die internationale Armutsschwelle nach Definition der Weltbank dagegen ist absolut. Sie besagt, wer so wenig hat, kann kaum richtig leben, egal in welchem Land, egal wie viel die anderen in einer Gesellschaft besitzen. Das Argument, die Armen würden sich doch nicht arm fühlen, solange sie nicht wüssten, dass es Menschen mit mehr Vermögen gebe, verliert in einer vernetzten, globalisierten Welt an Bedeutung.

Schon in 15 Jahren soll, wenn es nach dem Präsidenten der Weltbank Jim Yong Kim geht, niemand mehr unter extremer Armut leiden müssen. Erst im vergangenen Jahr machte er in einer Rede deutlich, dass dieses Ziel durchaus zu erreichen sei. Schließlich habe man bereits in der Vergangenheit „Millionen Menschen jährlich von absoluter Armut befreit“. Ob die Zahlen der Weltbank die globale Armut wirklich fassen können, daran gibt es jedoch trotzdem Zweifel. Zwar wird bei den Berechnungen die Kaufkraft miteinbezogen: Arm ist also der, der in seinem Land nicht die Dinge erwerben kann, die umgerechnet 1,25 US-Dollar kosten würden.

Doch gerade an diesen Umrechnungen gibt es viel Kritik. Sie basieren unter anderem auf dem Vergleich von Preisen verschiedener Güter in den verschiedenen Ländern, von Zeit zu Zeit werden die Preise immer wieder angepasst. 2005 zum Beispiel schien ein wichtiges Ziel erreicht: Zum ersten Mal gebe es weniger als eine Milliarde absolut Arme auf der Welt, hieß es damals. Eine historische Marke.

Nur drei Jahre später allerdings musste man die Erfolgsmeldung wieder revidieren: Nein, es waren doch mehr. Mancherorts hätten die Preise höher gelegen als ursprünglich angenommen, es gab 2005 also wie in den Jahren zuvor mehr als eine Milliarde Menschen in existenzieller Not. Daten aus diesen Ländern sind oft schwierig zu erheben.

Eine weltweite Armutslinie ergibt Sinn, um gemeinsame, internationale Ziele zu formulieren und die Arbeit der Entwicklungshilfe zu rechtfertigen. Sie kann allerdings immer nur Richtwert sein, denn über die wirklichen Lebensumstände der Armen sagt eine einzige Zahl auf dem Papier wenig aus. Gerade, weil in Industrieländern wie Deutschland wohl kaum jemand unter die 1,25 US-Dollar Grenze fällt. Was aber nicht heißt, dass niemand dort arm ist.

Armut bedeutet Mangel. Nicht allein an Geld, sondern auch an Gesundheit, an Bildung, an sozialen Kontakten. Einer Frau, der das Laufen sehr schwer fiel, hatte ein Mitarbeiter einer deutschen Tafel-Einrichtung einmal angeboten, dass er ihr das Essenspaket nach Hause bringen könne. Sie lehnte dankend ab. Schließlich komme sie doch nicht nur wegen der Lebensmittel, sondern vor allem auch wegen der Gespräche, sagte sie. Wer wenig hat, der kann sich nicht im Café verabreden oder nach der Arbeit gemeinsam mit den Kollegen in die Kneipe gehen. Der hat womöglich nicht einmal ein Telefon, um sich bei den Freunden zu erkundigen, wie es geht.

Der Ökonom und Nobelpreisträger Amartya Sen definiert Armut deshalb als das Fehlen von Verwirklichungschancen. Arm ist der, der sein Leben nicht frei gestalten kann, der trotz vorhandener Fähigkeiten nicht die Möglichkeiten hat, diese zu entfalten. Auf diesen Ansatz geht zum Beispiel der Human Development Index der Vereinten Nationen zurück, bei dem auch Schuldbildung und Lebenserwartung berücksichtigt werden.

Die Europäische Union (EU) misst Armut mittlerweile ebenso nicht mehr nur am Einkommen, sondern erfasst mit der Armutsgefährdung auch die Bedrohung von sozialer Ausgrenzung. Die wird unter anderem daran gemessen, ob sich eine Person einmal im Jahr einen Urlaub leisten kann oder es im Haushalt ein Auto gibt. In Bulgarien, Rumänien und Griechenland sind demnach besonders viele von Armut oder Ausgrenzung bedroht. Die weiter gefasste Definition der EU ist auch der Grund, warum immer wieder zwei ganz unterschiedliche Zahlen bezüglich der Armutsgefährdung in Deutschland kursieren: Einmal die fast 13 Millionen Menschen, also 16,1 Prozent der Gesamtbevölkerung (siehe Grafik). Hier ist die Grundlage allein das Einkommen, momentan die weniger als 979 Euro netto. Die zweite Zahl, die nicht nur das Einkommen berücksichtigt, sondern eben auch, was sich jemand tatsächlich kaufen kann oder wie viele Menschen in einem Haushalt arbeiten, beläuft sich auf 16 Millionen Menschen, etwa 20 Prozent. Drei Millionen Menschen mehr. Oder weniger. Je nach Definition.

Der französische Soziologe Serge Paugam hat also durchaus Recht, wenn er schreibt „wie ausgefeilt und präzise die Definition einer Armutsschwelle auch sein mag, stets haftet ihr etwas Willkürliches an“. Die Definition von Armut ist abhängig von der Kultur einer Gesellschaft, der politischen Agenda, von Wohlstand und Gewohnheiten. Und ein Aspekt von Armut, vielleicht sogar der wichtigste, ist sowieso nicht statistisch fassbar: die subjektive Empfindung. Sie kann in Wohlstandsgesellschaften manchmal besonders groß sein, da der Reichtum der anderen hier oft besonders offensichtlich ist – und der soziale Druck steigt. Wenn jemand einen Fernseher oder ein Smartphone hat, sagt das noch nichts darüber aus, ob derjenige sich später am Abend auch eine warme Mahlzeit leisten oder die Stromrechnung bezahlen kann. Als arm gelten, das möchte schließlich niemand. Egal unter welcher Definition.

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