SZ: Herr Kretschmann, stellen Sie sich vor, am Tisch sitzt eine Familie aus Kosovo. Sie hat alles aufgegeben in der Hoffnung auf ein besseres Leben. Wie würden Sie ihr erklären, warum in Deutschland kein Platz für sie ist?
Winfried Kretschmann: Jedes Gesetz ergibt an seinen Rändern Probleme. Aber wenn wir Politik aus Worst-Case-Szenarien heraus machen, verlassen wir den Kerngehalt seiner Regelung. Dann verlieren wir die Mitte der Gesellschaft und brauchen uns nicht zu wundern, wenn Extreme vordringen. Deshalb weigere ich mich, auf so eine Frage einzugehen. Denn ob so eine Familie wieder abgeschoben wird, unterliegt einer sorgfältigen Einzelfallprüfung.
Die Kosovaren sind ein Randproblem?
Das habe ich nicht gesagt. Ich habe davon gesprochen, dass jedes Gesetz bei besonderen Situationen an seine Grenzen stoßen kann. Ganz grundsätzlich gilt hier: Wir haben ein Asylrecht, das für politisch Verfolgte gedacht ist. Zurzeit läuft die massenhafte Zuwanderung der Menschen aus Kosovo darüber – das kann aber nicht funktionieren, sie sind nicht politisch verfolgt. Das überfordert und gefährdet das Asylrecht. Wir müssen klar trennen zwischen dem Asylrecht für politisch Verfolgte einerseits und vernünftigen Bleiberechtsregelungen für jene, die hier sind und sich zum Beispiel in Ausbildung befinden andererseits. Genau dazu habe ich mich gemeinsam mit dem Kollegen Bouffier aus Hessen und der Kollegin Dreyer aus Rheinland-Pfalz an die Kanzlerin gewandt. Und wir brauchen endlich ein Einwanderungsgesetz. Alle drei Bereiche sind wichtig.
Winfried Kretschmann ist der erste Ministerpräsident der Grünen. Er regiert seit 2011 eine grün-rote Koalition.
Ihre Partei argumentiert gern moralisch. Sie selbst sind Christ. Zerreißt es Sie nicht, wenn Sie die beschleunigte Abschiebung der Menschen aus Kosovo fordern?
Ich stehe da vor keiner Zerreißprobe. Um Ungerechtigkeiten auf der Welt zu beseitigen ist Moral notwendig, jedoch nicht hinreichend. In der Politik sind realistische Lösungen gefragt. So kann es nicht sein, dass in der EU fünf Länder 70 Prozent der Flüchtlinge aufnehmen. Und ein Land wie die Niederlande macht die Türen zu.
Für Kosovaren zeigt auch Deutschland wenig Offenheit.
Die EU muss dort etwas gegen die Fluchtursachen tun. Zwei meiner Minister waren gerade dort, um Möglichkeiten der Zusammenarbeit zu erkunden, etwa für eine bessere Ausbildung, für eine effektivere und qualitativ bessere Landwirtschaft oder mehr Kooperation im Hochschulbereich. Das sind wirksame Dinge. Offene Grenzen hat meine Partei früher schon mal gefordert, das musste sie wieder einsammeln, denn mit so einer Position scheitert man.
Vorigen Herbst waren viele Grüne entsetzt über Ihren Asylkompromiss im Bundesrat. Drei Länder des Balkans sind seither als „sichere Herkunftsstaaten“ definiert. Das Asylrecht soll aber Individuen schützen. Wie kann man da Staaten – zumal solche wie Serbien, in denen Roma kaum Chancen haben – pauschal als sicher definieren?
Menschenrechte kann man nicht verhandeln. Die Einzelfallprüfung beim Asylrecht gilt weiterhin...
...ist aber so gut wie ausgehebelt...
Nein. Das Bundesverfassungsgericht hat das auch klargemacht. Das Asylrecht garantiert ein individuelles Verfahren, das ist in einigen Fällen nur erschwert und verkürzt. Die Anerkennungsquote lag bei den Ländern, die jetzt als sichere Herkunftsstaaten gelten, schon vorher fast bei null. De facto ändert sich kaum etwas. Und ich habe wesentliche Verbesserungen für die Flüchtlinge erreicht. Sie können zum Beispiel schneller eine Arbeit aufnehmen.
Wären Sie bereit, auch Kosovo als sicheres Herkunftsland zu definieren?
Wir erleben, dass der Zuzug aus Serbien keineswegs geringer geworden ist, nachdem das Land zum sicheren Herkunftsstaat erklärt wurde. Wir müssen Lösungen überlegen, die wirksam sind. Dazu gehört an vorderster Stelle die Beschleunigung der Verfahren das wurde jetzt von dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge eingeleitet. Und es muss darum gehen, die Verhältnisse in Kosovo zu verbessern. Wenn die Leute spüren, dass sie in Kosovo eine Perspektive haben, was aufbauen können, verlassen sie das Land auch nicht.
Menschen abzuschieben wirkt wenig christlich. Lassen Sie als Politiker die Bergpredigt links liegen?
Nein. Aber wer ist ein Jünger Jesu, der so radikal seine Nachfolge antritt, dass er ganz nach der Bergpredigt lebt? Wer schafft das? Vielleicht die Mutter Teresa. Unsere Verfassungsordnung ist durch und durch von christlichen Grundsätzen durchwirkt. Ich habe deutlich gesagt: Was das Asylrecht betrifft, ist das Boot nie voll! Schon das hat mir den Vorwurf der Naivität eingebracht.
Wenn man das ernst meint, hätte man Grund, noch viel mehr zu moralisieren. Wo ist denn die deutsche Politik mit Hilfsmaßnahmen? Wo sind die Rettungsboote im Mittelmeer?
Deutschland nimmt fast die Hälfte der Flüchtlinge auf, die nach Europa kommen. Baden-Württemberg hat sich bereit erklärt, ein Sonderkontingent von bis zu 1000 schutzbedürftigen jungen Frauen und Mädchen aus Syrien und Nordirak aufzunehmen. Das wird gerade organisiert. Genug ist es ja nie. Aber mit Rummoralisiererei löst man Krisen und Probleme nicht.
Knicken Sie ein vor Ressentiments, und weil Sie um Ihre Chancen bei der Landtagswahl 2016 bangen?
Unsinn. Ich lasse mich bei solchen Fragen nicht leiten von der Frage, ob ich dadurch meine Chancen bei der Wahl schmälere oder mehre. Für mich stehen immer die Belange von Land und Menschen im Vordergrund. Natürlich geht es auch darum, wie viel die Bevölkerung mitträgt. Ich werbe für Flüchtlinge, ich werbe für Empathie. Ich habe aber auch erlebt, wie die rechtsradikalen Republikaner früher in Stuttgart in den Landtag eingezogen sind. Ich bin froh, dass es heute anders ist. Aber ich muss auch sagen: Wir haben zu wenig Unterkünfte für Flüchtlinge. Wir wollen sie ja nicht in Zelten unterbringen.
Wenn man Sie so hört, müssten Sie doch eigentlich den Satz von Horst Seehofer unterschreiben: „Wir sind nicht das Sozialamt für die ganze Welt.“
Das sind aber die falschen Worte, solche Sätze finde ich bedenklich. Sie schüren Ressentiments, denen wir vorbeugen sollten. Mit einer solchen Polemik gewinnt man keine Menschen dafür, mehr für die Entwicklung von Ländern wie Kosovo zu tun.
Mit Seehofer gäbe es in der Flüchtlingsfrage keine gemeinsame Initiative?
So wie er dazu redet, kann ich mir das schlecht vorstellen.
Ihr Prinzip der „Politik des Gehörtwerdens“ scheint Seehofer nun beim Thema Energiewende zu praktizieren. Er will den Ausbau der Stromtrassen stoppen, weil der Widerstand so groß ist.
Horst Seehofer und ich haben ein gemeinsames Energiepapier gemacht, weil Bayern und Baden-Württemberg die gleichen Interessen haben. Beide Länder hatten einen Atomstromanteil von mehr als 50 Prozent, und bei der Abschaltung der noch in Betrieb befindlichen AKWs gehen weitere 8000 Megawatt Grundlast vom Netz. Da brauchen wir natürlich Kapazitäten für flexible Gaskraftwerke, aber wir brauchen auch ein gut ausgebautes Leitungssystem. Denn wir wollen am Ende ja nur regenerative Energien. Insofern ist mir Seehofers derzeitige Haltung unverständlich. Und ich halte sie auch nicht für verantwortlich. Die Kanzlerin und der Bundeswirtschaftsminister sind jetzt gefragt, den Netzausbau gegenüber einem Land durchzusetzen, das ihn selber mit beschlossen hat.
Können Sie ihn verstehen, wenn Seehofer Volkes Stimme nachgibt?
Der Widerstand ist teilweise stark, aber deswegen darf man nicht einknicken. Die Politik des Gehörtwerdens bedeutet nicht, jedem Protest nachzugeben. Denn es besteht die Gefahr, dass wir dann gespaltene Strompreismärkte bekommen, und es kann wirklich nicht im Interesse der süddeutschen Länder sein, dass wir hier mehr bezahlen. Ausgerechnet wir, die wir die Industrie haben, die den Strom braucht. Insofern ist mir schleierhaft, was die bayerische Staatsregierung umtreibt.
Diese Politik des Gehörtwerdens: Täuscht der Eindruck, dass Ihnen das Zuhören oft auf die Nerven geht?
Wenn der 17. Besserwisser kommt, wird es manchmal schon schwer. Gerade die Windkraftgegner tun manchmal so, als hätte ich mich noch nie mit Windkraft beschäftigt. Trotzdem: Ich lobe das Engagement unserer Bürger. Diese Leute sind halt auch aufmüpfig. Man kriegt das nur im Paket: das Engagement und die Aufmüpfigkeit.
Einer der Gründungsmythen Ihrer Partei hat gerade Jubiläum: Wyhl, 40 Jahre Bauplatzbesetzung, der Ursprung der deutschen Anti-Atomkraft-Bewegung. Da waren Menschen am Werk, die sich gegen eine gewählte Regierung stellten. Das passt eigentlich so gar nicht zum Politikverständnis, wie Sie es gerade darlegen.
Als Ministerpräsident bin ich nun mal in einer anderen Rolle. Ich habe einen Eid auf die Verfassung abgelegt. Darin heißt es: Die Exekutive ist an Recht und Gesetz gebunden. Ich sag mal so: Wenn eine Revolution erfolgreich war, legitimiert sie sich ex post. Jetzt, nachdem wir in einem nationalen Konsens aus der Atomkraft ausgestiegen sind, muss man diesen Leuten große Weitsicht attestieren...
... waren Sie selbst dabei in Wyhl?
Ja. Da ging es um Jahrtausendfragen, wenn man allein das Problem der Atommüll-Entsorgung bedenkt. Ich sage immer: Die Narren von heute können die Helden, sie können aber auch die Obernarren von morgen sein.
Sie selbst sind hier gelandet, im Amtssitz des Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg.
Das macht mich sehr zufrieden. Als wir dem Beschluss zum Ausstieg aus der Atomkraft einstimmig zugestimmt haben bei der Ministerpräsidentenkonferenz, dachte ich: Winfried, es hat sich schon gelohnt.
Winfried Kretschmann: Jedes Gesetz ergibt an seinen Rändern Probleme. Aber wenn wir Politik aus Worst-Case-Szenarien heraus machen, verlassen wir den Kerngehalt seiner Regelung. Dann verlieren wir die Mitte der Gesellschaft und brauchen uns nicht zu wundern, wenn Extreme vordringen. Deshalb weigere ich mich, auf so eine Frage einzugehen. Denn ob so eine Familie wieder abgeschoben wird, unterliegt einer sorgfältigen Einzelfallprüfung.
Die Kosovaren sind ein Randproblem?
Das habe ich nicht gesagt. Ich habe davon gesprochen, dass jedes Gesetz bei besonderen Situationen an seine Grenzen stoßen kann. Ganz grundsätzlich gilt hier: Wir haben ein Asylrecht, das für politisch Verfolgte gedacht ist. Zurzeit läuft die massenhafte Zuwanderung der Menschen aus Kosovo darüber – das kann aber nicht funktionieren, sie sind nicht politisch verfolgt. Das überfordert und gefährdet das Asylrecht. Wir müssen klar trennen zwischen dem Asylrecht für politisch Verfolgte einerseits und vernünftigen Bleiberechtsregelungen für jene, die hier sind und sich zum Beispiel in Ausbildung befinden andererseits. Genau dazu habe ich mich gemeinsam mit dem Kollegen Bouffier aus Hessen und der Kollegin Dreyer aus Rheinland-Pfalz an die Kanzlerin gewandt. Und wir brauchen endlich ein Einwanderungsgesetz. Alle drei Bereiche sind wichtig.
Winfried Kretschmann ist der erste Ministerpräsident der Grünen. Er regiert seit 2011 eine grün-rote Koalition.
Ihre Partei argumentiert gern moralisch. Sie selbst sind Christ. Zerreißt es Sie nicht, wenn Sie die beschleunigte Abschiebung der Menschen aus Kosovo fordern?
Ich stehe da vor keiner Zerreißprobe. Um Ungerechtigkeiten auf der Welt zu beseitigen ist Moral notwendig, jedoch nicht hinreichend. In der Politik sind realistische Lösungen gefragt. So kann es nicht sein, dass in der EU fünf Länder 70 Prozent der Flüchtlinge aufnehmen. Und ein Land wie die Niederlande macht die Türen zu.
Für Kosovaren zeigt auch Deutschland wenig Offenheit.
Die EU muss dort etwas gegen die Fluchtursachen tun. Zwei meiner Minister waren gerade dort, um Möglichkeiten der Zusammenarbeit zu erkunden, etwa für eine bessere Ausbildung, für eine effektivere und qualitativ bessere Landwirtschaft oder mehr Kooperation im Hochschulbereich. Das sind wirksame Dinge. Offene Grenzen hat meine Partei früher schon mal gefordert, das musste sie wieder einsammeln, denn mit so einer Position scheitert man.
Vorigen Herbst waren viele Grüne entsetzt über Ihren Asylkompromiss im Bundesrat. Drei Länder des Balkans sind seither als „sichere Herkunftsstaaten“ definiert. Das Asylrecht soll aber Individuen schützen. Wie kann man da Staaten – zumal solche wie Serbien, in denen Roma kaum Chancen haben – pauschal als sicher definieren?
Menschenrechte kann man nicht verhandeln. Die Einzelfallprüfung beim Asylrecht gilt weiterhin...
...ist aber so gut wie ausgehebelt...
Nein. Das Bundesverfassungsgericht hat das auch klargemacht. Das Asylrecht garantiert ein individuelles Verfahren, das ist in einigen Fällen nur erschwert und verkürzt. Die Anerkennungsquote lag bei den Ländern, die jetzt als sichere Herkunftsstaaten gelten, schon vorher fast bei null. De facto ändert sich kaum etwas. Und ich habe wesentliche Verbesserungen für die Flüchtlinge erreicht. Sie können zum Beispiel schneller eine Arbeit aufnehmen.
Wären Sie bereit, auch Kosovo als sicheres Herkunftsland zu definieren?
Wir erleben, dass der Zuzug aus Serbien keineswegs geringer geworden ist, nachdem das Land zum sicheren Herkunftsstaat erklärt wurde. Wir müssen Lösungen überlegen, die wirksam sind. Dazu gehört an vorderster Stelle die Beschleunigung der Verfahren das wurde jetzt von dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge eingeleitet. Und es muss darum gehen, die Verhältnisse in Kosovo zu verbessern. Wenn die Leute spüren, dass sie in Kosovo eine Perspektive haben, was aufbauen können, verlassen sie das Land auch nicht.
Menschen abzuschieben wirkt wenig christlich. Lassen Sie als Politiker die Bergpredigt links liegen?
Nein. Aber wer ist ein Jünger Jesu, der so radikal seine Nachfolge antritt, dass er ganz nach der Bergpredigt lebt? Wer schafft das? Vielleicht die Mutter Teresa. Unsere Verfassungsordnung ist durch und durch von christlichen Grundsätzen durchwirkt. Ich habe deutlich gesagt: Was das Asylrecht betrifft, ist das Boot nie voll! Schon das hat mir den Vorwurf der Naivität eingebracht.
Wenn man das ernst meint, hätte man Grund, noch viel mehr zu moralisieren. Wo ist denn die deutsche Politik mit Hilfsmaßnahmen? Wo sind die Rettungsboote im Mittelmeer?
Deutschland nimmt fast die Hälfte der Flüchtlinge auf, die nach Europa kommen. Baden-Württemberg hat sich bereit erklärt, ein Sonderkontingent von bis zu 1000 schutzbedürftigen jungen Frauen und Mädchen aus Syrien und Nordirak aufzunehmen. Das wird gerade organisiert. Genug ist es ja nie. Aber mit Rummoralisiererei löst man Krisen und Probleme nicht.
Knicken Sie ein vor Ressentiments, und weil Sie um Ihre Chancen bei der Landtagswahl 2016 bangen?
Unsinn. Ich lasse mich bei solchen Fragen nicht leiten von der Frage, ob ich dadurch meine Chancen bei der Wahl schmälere oder mehre. Für mich stehen immer die Belange von Land und Menschen im Vordergrund. Natürlich geht es auch darum, wie viel die Bevölkerung mitträgt. Ich werbe für Flüchtlinge, ich werbe für Empathie. Ich habe aber auch erlebt, wie die rechtsradikalen Republikaner früher in Stuttgart in den Landtag eingezogen sind. Ich bin froh, dass es heute anders ist. Aber ich muss auch sagen: Wir haben zu wenig Unterkünfte für Flüchtlinge. Wir wollen sie ja nicht in Zelten unterbringen.
Wenn man Sie so hört, müssten Sie doch eigentlich den Satz von Horst Seehofer unterschreiben: „Wir sind nicht das Sozialamt für die ganze Welt.“
Das sind aber die falschen Worte, solche Sätze finde ich bedenklich. Sie schüren Ressentiments, denen wir vorbeugen sollten. Mit einer solchen Polemik gewinnt man keine Menschen dafür, mehr für die Entwicklung von Ländern wie Kosovo zu tun.
Mit Seehofer gäbe es in der Flüchtlingsfrage keine gemeinsame Initiative?
So wie er dazu redet, kann ich mir das schlecht vorstellen.
Ihr Prinzip der „Politik des Gehörtwerdens“ scheint Seehofer nun beim Thema Energiewende zu praktizieren. Er will den Ausbau der Stromtrassen stoppen, weil der Widerstand so groß ist.
Horst Seehofer und ich haben ein gemeinsames Energiepapier gemacht, weil Bayern und Baden-Württemberg die gleichen Interessen haben. Beide Länder hatten einen Atomstromanteil von mehr als 50 Prozent, und bei der Abschaltung der noch in Betrieb befindlichen AKWs gehen weitere 8000 Megawatt Grundlast vom Netz. Da brauchen wir natürlich Kapazitäten für flexible Gaskraftwerke, aber wir brauchen auch ein gut ausgebautes Leitungssystem. Denn wir wollen am Ende ja nur regenerative Energien. Insofern ist mir Seehofers derzeitige Haltung unverständlich. Und ich halte sie auch nicht für verantwortlich. Die Kanzlerin und der Bundeswirtschaftsminister sind jetzt gefragt, den Netzausbau gegenüber einem Land durchzusetzen, das ihn selber mit beschlossen hat.
Können Sie ihn verstehen, wenn Seehofer Volkes Stimme nachgibt?
Der Widerstand ist teilweise stark, aber deswegen darf man nicht einknicken. Die Politik des Gehörtwerdens bedeutet nicht, jedem Protest nachzugeben. Denn es besteht die Gefahr, dass wir dann gespaltene Strompreismärkte bekommen, und es kann wirklich nicht im Interesse der süddeutschen Länder sein, dass wir hier mehr bezahlen. Ausgerechnet wir, die wir die Industrie haben, die den Strom braucht. Insofern ist mir schleierhaft, was die bayerische Staatsregierung umtreibt.
Diese Politik des Gehörtwerdens: Täuscht der Eindruck, dass Ihnen das Zuhören oft auf die Nerven geht?
Wenn der 17. Besserwisser kommt, wird es manchmal schon schwer. Gerade die Windkraftgegner tun manchmal so, als hätte ich mich noch nie mit Windkraft beschäftigt. Trotzdem: Ich lobe das Engagement unserer Bürger. Diese Leute sind halt auch aufmüpfig. Man kriegt das nur im Paket: das Engagement und die Aufmüpfigkeit.
Einer der Gründungsmythen Ihrer Partei hat gerade Jubiläum: Wyhl, 40 Jahre Bauplatzbesetzung, der Ursprung der deutschen Anti-Atomkraft-Bewegung. Da waren Menschen am Werk, die sich gegen eine gewählte Regierung stellten. Das passt eigentlich so gar nicht zum Politikverständnis, wie Sie es gerade darlegen.
Als Ministerpräsident bin ich nun mal in einer anderen Rolle. Ich habe einen Eid auf die Verfassung abgelegt. Darin heißt es: Die Exekutive ist an Recht und Gesetz gebunden. Ich sag mal so: Wenn eine Revolution erfolgreich war, legitimiert sie sich ex post. Jetzt, nachdem wir in einem nationalen Konsens aus der Atomkraft ausgestiegen sind, muss man diesen Leuten große Weitsicht attestieren...
... waren Sie selbst dabei in Wyhl?
Ja. Da ging es um Jahrtausendfragen, wenn man allein das Problem der Atommüll-Entsorgung bedenkt. Ich sage immer: Die Narren von heute können die Helden, sie können aber auch die Obernarren von morgen sein.
Sie selbst sind hier gelandet, im Amtssitz des Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg.
Das macht mich sehr zufrieden. Als wir dem Beschluss zum Ausstieg aus der Atomkraft einstimmig zugestimmt haben bei der Ministerpräsidentenkonferenz, dachte ich: Winfried, es hat sich schon gelohnt.