Mumbles ist immer noch traurig an diesem Dienstagmorgen. „Welcome to the Jungle“, sagt er mit leiser Stimme in Anlehnung an das Lied der Rockgruppe „Guns’n Roses“. Dann zitiert er weitere Textzeilen: „Es wird mit jedem Tag schlimmer hier, wir leben wie die Tiere.“ Danach legt er ein paar Blumen auf den Gehsteig – hier, in der San Pedro Street von Los Angeles, im Stadtteil Skid Row, wo am vergangenen Sonntag Polizisten einen schwarzen Obdachlosen erschossen haben.
Den Toten hat Mumbles gekannt. Ein wohnungsloser Mann mit schwarzer Hautfarbe. Einer wie Mumbles. „Ist das Leben eines schwarzen Menschen weniger wert?“, fragt er, der seit 15 Jahren keine Wohnung hat. Dann ruft er: „Diese Polizisten sind Mörder!“
Seinen richtigen Namen will Mumbles, 53, nicht nennen. Wie die meisten der etwa 2000 Obdachlosen hier benutzt er einen Spitznamen. Wer groß und dürr ist, der wird Slim genannt. Wer undeutlich spricht: Mumbles. Wer aus Kamerun kommt, der nennt sich Africa – so wie der Mann, der am Wochenende erschossen worden ist. Er hatte zunächst einen Passanten belästigt und womöglich auch bestohlen, danach mit einem anderen Obdachlosen gestritten und sich anschließend geweigert, sein Zelt vom Gehsteig zu entfernen. Sechs Polizisten standen ihm gegenüber, das ist auf dem Handy-Video eines Zeugen zu sehen, sie diskutierten mit ihm, es kam zur Rangelei. Auf dem Video ruft einer der Polizisten: „Er hat meine Pistole!“ Dann sind Schüsse zu hören. Africa stirbt noch auf dem Gehsteig.
Fälle wie Ferguson sind in den USA kein Einzelfall. Auch in Los Angeles sind viele Afroamerikaner Opfer von Polizeigewalt
Der Fall und die im Internet veröffentlichten Aufnahmen sorgen für Aufsehen – nicht nur, weil polizeiliche Gewalt in den Vereinigten Staaten durch die Vorfälle in Ferguson (ein weißer Polizist erschoss einen unbewaffneten Afroamerikaner) und New York (ein Afroamerikaner starb an den Folgen eines polizeilichen Würgegriffs, obwohl er immer wieder rief: „Ich bekomme keine Luft!“) derzeit wieder besonders im kollektiven Gedächtnis verankert ist. Auch, weil Africa genau hier erschossen worden ist. In Los Angeles. Auf offener Straße. Von Beamten des Los Angeles Police Department (LAPD). Die Bewohner dieser Stadt, sie erinnern sich noch sehr genau daran, was im April 1992 passiert ist. Die Beamten, die den Afroamerikaner Rodney King bei dessen Verhaftung brutal verprügelt hatten, waren freigesprochen worden – danach kam es im Süden von Los Angeles zu Protesten, die zunächst friedlich begannen, jedoch rasch eskalierten. Autos wurden umgeworfen, Supermärkte ausgeraubt, Wohnhäuser angezündet. 53 Menschen starben bei den „South Central Riots“, mehr als 2000 wurden verletzt. Erst nach sechs Tagen konnte die Nationalgarde die Situation wieder unter Kontrolle bringen.
Bei jedem neuen Fall polizeilicher Gewalt werden deshalb die gleichen Fragen gestellt: Was hat sich getan seit 1992? Ist Los Angeles nun eine zivilisierte Stadt oder immer noch ein urbaner Dschungel, in dem manche Bewohner wie Tiere leben müssen? Die Antwort jener Menschen, die sich am Dienstag in Skid Row versammeln: Es hat sich nicht viel verändert in den vergangenen 23 Jahren. „LA ist immer noch ein Dschungel“, sagt Mumbles: „Und es wird immer ein Dschungel bleiben.“ Als Beweis dafür zitiert er die von der Los Angeles Times veröffentlichten Statistiken: In den vergangenen 15 Jahren gab es 228 Menschen, an deren Tod LAPD-Beamte beteiligt waren – durchschnittlich wird hier alle drei Wochen jemand von einem Polizisten getötet, mehr als vier von fünf Opfern sind Afroamerikaner oder Latinos.
Diesmal marschieren etwa 200 Bewohner von der San Pedro Street zum Hauptsitz der LAPD. Sie halten Schilder hoch, auf denen steht: „Das Leben eines Schwarzen ist wertvoll.“ Oder: „Polizisten sind Mörder.“ Erst als ein Priester zu Besonnenheit mahnt, wird es still – viele recken jetzt ihre rechte Faust nach oben. Auch der Priester. Die Menschen sind wütend. Es spielt für sie keine Rolle, dass Africa – wie sich mittlerweile herausstellte – einst die Identität eines Franzosen angenommen hatte, um in die USA einzureisen. Es ist für sie nicht von Bedeutung, dass er vor 15 Jahren eine Bank ausgeraubt hat. Es spielt für sie auch keine Rolle, dass Africa der Aggressor war bei dieser Begegnung und während der Rangelei offenbar nach der Pistole eines Beamten gegriffen hat.
Sie werten seinen Tod als weiteres Indiz für weiße Willkür und polizeiliche Schießwut. „Da waren mehrere Polizisten mit Pistolen und Elektroschockern – und sie waren nicht in der Lage, diese Situation unter Kontrolle zu bringen?“, ruft Cue Jean-Marie den Protestierenden zu. Er ist der Priester, der vorher zur Ruhe gemahnt hat. „Das ist ein weiterer sinnloser Tod eines unbewaffneten Afroamerikaners durch die Polizei.“
Bislang weigert sich der Polizeichef, die Aufnahmen jener Kameras zu veröffentlichen, die an den Uniformen von zwei Polizisten angebracht waren. Das Misstrauen bleibt daher groß in dieser Stadt, trotz zahlreicher Projekte wie etwa den „Watts Bears“ – ein Footballteam mit Grundschulkindern aus einer der ärmsten Gegend der Stadt, die beim Sport von LAPD-Beamten betreut werden. Doch was helfen diese kleinen Erfolge, wenn dann einer auf offener Straße abgeknallt wird und es die ganze Welt per Internet-Video sieht?
Die Menschen trauern im Stadtteil Skid Row. Sie singen, sie reden, sie umarmen sich. Wenn ein Polizeiauto vorbeifährt, dann brüllen sie „Mörder“ oder „Fuck the Police“. Aber immerhin gibt es keine Schlägereien, keine Randale, keine Plünderungen. Vielleicht hat sich ja doch etwas getan in dieser Stadt.
Den Toten hat Mumbles gekannt. Ein wohnungsloser Mann mit schwarzer Hautfarbe. Einer wie Mumbles. „Ist das Leben eines schwarzen Menschen weniger wert?“, fragt er, der seit 15 Jahren keine Wohnung hat. Dann ruft er: „Diese Polizisten sind Mörder!“
Seinen richtigen Namen will Mumbles, 53, nicht nennen. Wie die meisten der etwa 2000 Obdachlosen hier benutzt er einen Spitznamen. Wer groß und dürr ist, der wird Slim genannt. Wer undeutlich spricht: Mumbles. Wer aus Kamerun kommt, der nennt sich Africa – so wie der Mann, der am Wochenende erschossen worden ist. Er hatte zunächst einen Passanten belästigt und womöglich auch bestohlen, danach mit einem anderen Obdachlosen gestritten und sich anschließend geweigert, sein Zelt vom Gehsteig zu entfernen. Sechs Polizisten standen ihm gegenüber, das ist auf dem Handy-Video eines Zeugen zu sehen, sie diskutierten mit ihm, es kam zur Rangelei. Auf dem Video ruft einer der Polizisten: „Er hat meine Pistole!“ Dann sind Schüsse zu hören. Africa stirbt noch auf dem Gehsteig.
Fälle wie Ferguson sind in den USA kein Einzelfall. Auch in Los Angeles sind viele Afroamerikaner Opfer von Polizeigewalt
Der Fall und die im Internet veröffentlichten Aufnahmen sorgen für Aufsehen – nicht nur, weil polizeiliche Gewalt in den Vereinigten Staaten durch die Vorfälle in Ferguson (ein weißer Polizist erschoss einen unbewaffneten Afroamerikaner) und New York (ein Afroamerikaner starb an den Folgen eines polizeilichen Würgegriffs, obwohl er immer wieder rief: „Ich bekomme keine Luft!“) derzeit wieder besonders im kollektiven Gedächtnis verankert ist. Auch, weil Africa genau hier erschossen worden ist. In Los Angeles. Auf offener Straße. Von Beamten des Los Angeles Police Department (LAPD). Die Bewohner dieser Stadt, sie erinnern sich noch sehr genau daran, was im April 1992 passiert ist. Die Beamten, die den Afroamerikaner Rodney King bei dessen Verhaftung brutal verprügelt hatten, waren freigesprochen worden – danach kam es im Süden von Los Angeles zu Protesten, die zunächst friedlich begannen, jedoch rasch eskalierten. Autos wurden umgeworfen, Supermärkte ausgeraubt, Wohnhäuser angezündet. 53 Menschen starben bei den „South Central Riots“, mehr als 2000 wurden verletzt. Erst nach sechs Tagen konnte die Nationalgarde die Situation wieder unter Kontrolle bringen.
Bei jedem neuen Fall polizeilicher Gewalt werden deshalb die gleichen Fragen gestellt: Was hat sich getan seit 1992? Ist Los Angeles nun eine zivilisierte Stadt oder immer noch ein urbaner Dschungel, in dem manche Bewohner wie Tiere leben müssen? Die Antwort jener Menschen, die sich am Dienstag in Skid Row versammeln: Es hat sich nicht viel verändert in den vergangenen 23 Jahren. „LA ist immer noch ein Dschungel“, sagt Mumbles: „Und es wird immer ein Dschungel bleiben.“ Als Beweis dafür zitiert er die von der Los Angeles Times veröffentlichten Statistiken: In den vergangenen 15 Jahren gab es 228 Menschen, an deren Tod LAPD-Beamte beteiligt waren – durchschnittlich wird hier alle drei Wochen jemand von einem Polizisten getötet, mehr als vier von fünf Opfern sind Afroamerikaner oder Latinos.
Diesmal marschieren etwa 200 Bewohner von der San Pedro Street zum Hauptsitz der LAPD. Sie halten Schilder hoch, auf denen steht: „Das Leben eines Schwarzen ist wertvoll.“ Oder: „Polizisten sind Mörder.“ Erst als ein Priester zu Besonnenheit mahnt, wird es still – viele recken jetzt ihre rechte Faust nach oben. Auch der Priester. Die Menschen sind wütend. Es spielt für sie keine Rolle, dass Africa – wie sich mittlerweile herausstellte – einst die Identität eines Franzosen angenommen hatte, um in die USA einzureisen. Es ist für sie nicht von Bedeutung, dass er vor 15 Jahren eine Bank ausgeraubt hat. Es spielt für sie auch keine Rolle, dass Africa der Aggressor war bei dieser Begegnung und während der Rangelei offenbar nach der Pistole eines Beamten gegriffen hat.
Sie werten seinen Tod als weiteres Indiz für weiße Willkür und polizeiliche Schießwut. „Da waren mehrere Polizisten mit Pistolen und Elektroschockern – und sie waren nicht in der Lage, diese Situation unter Kontrolle zu bringen?“, ruft Cue Jean-Marie den Protestierenden zu. Er ist der Priester, der vorher zur Ruhe gemahnt hat. „Das ist ein weiterer sinnloser Tod eines unbewaffneten Afroamerikaners durch die Polizei.“
Bislang weigert sich der Polizeichef, die Aufnahmen jener Kameras zu veröffentlichen, die an den Uniformen von zwei Polizisten angebracht waren. Das Misstrauen bleibt daher groß in dieser Stadt, trotz zahlreicher Projekte wie etwa den „Watts Bears“ – ein Footballteam mit Grundschulkindern aus einer der ärmsten Gegend der Stadt, die beim Sport von LAPD-Beamten betreut werden. Doch was helfen diese kleinen Erfolge, wenn dann einer auf offener Straße abgeknallt wird und es die ganze Welt per Internet-Video sieht?
Die Menschen trauern im Stadtteil Skid Row. Sie singen, sie reden, sie umarmen sich. Wenn ein Polizeiauto vorbeifährt, dann brüllen sie „Mörder“ oder „Fuck the Police“. Aber immerhin gibt es keine Schlägereien, keine Randale, keine Plünderungen. Vielleicht hat sich ja doch etwas getan in dieser Stadt.