Scheitern ist zum Gesellschaftsthema geworden. Selbst in der Wirtschaftsgroßregion Stuttgart versammeln sich die Freunde unbeschwerten Versagens neuerdings zu sogenannten „FuckUp Nights“, auf denen konkurserprobte Unternehmer Modelle nachhaltigen Scheiterns präsentieren und Vorschläge unterbreiten, wie sich ökonomisches Versagen durch mehr Achtsamkeit künftig optimieren ließe. Auch das Wirtschaftsmagazin brand eins steuerte kürzlich ein Schwerpunktheft zum Thema bei, bekannte sich zur „Lust am Wagnis“ und erhob das Scheitern in den Rang einer schönen Kunst. Grund genug, einmal die Literatur nach ihrer Kernkompetenz im Austausch mit Wirtschaft, Gesellschaft, Politik und Wissenschaft zu befragen – ist doch alles Scheitern seit Orpheus, Ödipus, Odysseus und den anderen buchstäblich bei ihr zu Hause.
Ein wenig frivol und dabei selbst dem Scheitern ausgesetzt, wirkte das Unternehmen des Stuttgarter Literaturhauses allerdings schon, wenn es im Rahmen eines „Festivals des Misserfolgs“ gleich die ganze Spanne möglichen Scheiterns auszuloten suchte – vom gewöhnlichen Stolpern bis zum Zerschellen von Lebensplänen, vom Erleiden von Schiffbrüchen im Arbeits- und Liebesleben bis zum Stranden von Wirtschafts- und anderen Unternehmen, von Krisen- zu Kriegsgebieten bis zu „gescheiterten Volkswirtschaften“ und „gescheiterten Staaten“. Prominente Autoren und Akteure sorgten an drei Tagen für eher nachdenkliche Konferenzstimmung als für Festivallaune.
Katharina Raabe, die wohl wichtigste deutsche Lektorin für osteuropäische Literaturen moderierte ein Podium mit der weißrussischen Schriftstellerin und Friedenspreisträgerin Swetlana Alexijewitsch („Secondhand-Zeit“, 2013) und dem Erforscher ukrainischer und russischer Protestbewegungen Mischa Gabowitsch („Putin kaputt?“, 2013) zum Thema „Politik in Trümmern“. Um – pars pro toto – ein Ergebnis des diskursiven Naherückens von Europas gegenwärtig kritischster Zone vorwegzunehmen, zitierte Raabe den Gruß eines ukrainischen Freundes an die Deutschen, von denen viele die Ukraine noch immer von der europäischen Landkarte verdrängt sehen möchten: „Für Euch wird es auch nicht mehr so sein, wie es war; es ist schon gar nicht mehr, wie es war; Ihr habt es nur noch nicht gemerkt.“
NIcht jeder ist den hohen Anforderungen im Beruf gewachsen. Dass Scheitern auch eine Chance sein kann, wird auf der "FuckUp Nights" demonstriert
Oder hatten es die Anwesenden bei Themen wie „Unglücksraben“, „Liebesdesaster“ oder „Endstation“ vielleicht doch schon gemerkt? Der Schweizer Buchpreisträger („Koala“, 2014) Lukas Bärfuss und der Philosoph Thomas Macho lasen und sprachen über Suizide zwischen „ultimativem Scheitern“ und „letztem Ausweg“. In der Diskussion zwischen der Romanautorin Nora Bossong („Gesellschaft mit beschränkter Haftung“, 2012), dem Wirtschaftswissenschaftler Werner Plumpe und dem Literaturwissenschaftler Joseph Vogl ging es unter der Überschrift „Die große Pleite“ vor allem um Griechenland vor dem ökonomischen Zusammenbruch. Die israelische Autorin Lizzie Doron sprach mit dem deutschen Parlamentarier Ruprecht Polenz zum Stichwort „Zerrüttete Beziehungen“ über den israelisch-palästinensischen Dauerkonflikt.
Bei aller scheinbaren Ausweglosigkeit des Scheiterns war es ausgerechnet Doron, die mit der schönsten Geschichte eines Versagens, der Schilderung eines gescheiterten Terroranschlags einen Hoffnungsfunken anzudeuten vermochte: Es ist die Geschichte eines jungen Mädchens, das unter dem Druck ihres Clans, zur Selbstmordattentäterin werden sollte. An einem israelischen Kontrollpunkt sollte sie sich in die Luft sprengen. Die Armee hatte von dem Plan jedoch Wind bekommen und befahl den Umstehenden, sich auf den Boden zu werfen. Dann zog das Mädchen die Handgranate, die jedoch nicht zündete, und wurde verhaftet. Als sie nach Jahren aus dem Gefängnis entlassen wurde, bat sie um eine Begegnung mit dem Soldaten, der sie festgenommen hatte. Beide wurden Freunde. Jetzt ist sie eine Friedensaktivistin, und Doron wird als nächstes Buchprojekt diese Geschichte zusammen mit den Geschichten anderer Aussteiger aus dem Terrorismus aufzeichnen.
Einige Nummern kleiner scheitern dagegen die Figuren von Wilhelm Genazino, von denen stets nichts anderes als Stolpern und Scheitern zu erwarten ist. Damit sucht der Büchnerpreisträger in allen seinen Büchern, Nietzsches skeptische Diagnose umzusetzen, wonach Scheitern als „die einzige vernünftige Daseinsform von Wirklichkeit“ anzusehen sei. Die existentielle Nähe des Schriftstellers selbst zum Scheitern verpflichtet ihn freilich zu Empathie und Kollaboration. Er muss dazu nicht notwendigerweise immerzu leiden, nur um Kunst entstehen zu lassen, sondern kann stets auch wieder davonkommen, notfalls, sagt Genazino, „durch gespielte Abwesenheit“. Der Literaturwissenschaftler Joseph Vogl dreht die Sache wieder um und findet wenig Trost fürs Positive – außer dass er sich einig ist mit Nora Bossong, dass die Komödie die einzig adäquate literarische Gattung für alle Spielarten des Scheiterns sei: Unter Berufung auf Kafka gäbe es gewiss „unendlich viel Hoffnung, aber nicht für uns“.
Wenig Hoffnung gibt es nach den traurig stimmenden Diagnosen Swetlana Alexijwitschs für die Ukraine. Sie glaubt nicht, dass die Maidan-Bewegung in absehbarer Zeit auf Russland übergreifen wird. Gestützt wird diese Prophezeiung von den empirischen Befunden des Soziologen Gabowitsch. Den einzigen Lichtblick erkennt sie in einem „Grundproblem des 21. Jahrhunderts“, dass nämlich „niemand mehr sterben will – zum Glück“. Allerdings seien die Waffen ungleich verteilt: hier unerfahrene, schlecht ausgerüstete Wehrpflichtige, dort kampferprobte, waffenstarrende Söldner. Da bliebe nur, der Ukraine endlich Waffen zu liefern und sie ökonomisch am Leben zu erhalten. Im Übrigen sei allem Scheitern nur mit dem zu begegnen, was Alexijewitsch ihre Helden häufig sagen lässt: „Wir müssen darüber reden, was geschehen ist.“
Ein wenig frivol und dabei selbst dem Scheitern ausgesetzt, wirkte das Unternehmen des Stuttgarter Literaturhauses allerdings schon, wenn es im Rahmen eines „Festivals des Misserfolgs“ gleich die ganze Spanne möglichen Scheiterns auszuloten suchte – vom gewöhnlichen Stolpern bis zum Zerschellen von Lebensplänen, vom Erleiden von Schiffbrüchen im Arbeits- und Liebesleben bis zum Stranden von Wirtschafts- und anderen Unternehmen, von Krisen- zu Kriegsgebieten bis zu „gescheiterten Volkswirtschaften“ und „gescheiterten Staaten“. Prominente Autoren und Akteure sorgten an drei Tagen für eher nachdenkliche Konferenzstimmung als für Festivallaune.
Katharina Raabe, die wohl wichtigste deutsche Lektorin für osteuropäische Literaturen moderierte ein Podium mit der weißrussischen Schriftstellerin und Friedenspreisträgerin Swetlana Alexijewitsch („Secondhand-Zeit“, 2013) und dem Erforscher ukrainischer und russischer Protestbewegungen Mischa Gabowitsch („Putin kaputt?“, 2013) zum Thema „Politik in Trümmern“. Um – pars pro toto – ein Ergebnis des diskursiven Naherückens von Europas gegenwärtig kritischster Zone vorwegzunehmen, zitierte Raabe den Gruß eines ukrainischen Freundes an die Deutschen, von denen viele die Ukraine noch immer von der europäischen Landkarte verdrängt sehen möchten: „Für Euch wird es auch nicht mehr so sein, wie es war; es ist schon gar nicht mehr, wie es war; Ihr habt es nur noch nicht gemerkt.“
NIcht jeder ist den hohen Anforderungen im Beruf gewachsen. Dass Scheitern auch eine Chance sein kann, wird auf der "FuckUp Nights" demonstriert
Oder hatten es die Anwesenden bei Themen wie „Unglücksraben“, „Liebesdesaster“ oder „Endstation“ vielleicht doch schon gemerkt? Der Schweizer Buchpreisträger („Koala“, 2014) Lukas Bärfuss und der Philosoph Thomas Macho lasen und sprachen über Suizide zwischen „ultimativem Scheitern“ und „letztem Ausweg“. In der Diskussion zwischen der Romanautorin Nora Bossong („Gesellschaft mit beschränkter Haftung“, 2012), dem Wirtschaftswissenschaftler Werner Plumpe und dem Literaturwissenschaftler Joseph Vogl ging es unter der Überschrift „Die große Pleite“ vor allem um Griechenland vor dem ökonomischen Zusammenbruch. Die israelische Autorin Lizzie Doron sprach mit dem deutschen Parlamentarier Ruprecht Polenz zum Stichwort „Zerrüttete Beziehungen“ über den israelisch-palästinensischen Dauerkonflikt.
Bei aller scheinbaren Ausweglosigkeit des Scheiterns war es ausgerechnet Doron, die mit der schönsten Geschichte eines Versagens, der Schilderung eines gescheiterten Terroranschlags einen Hoffnungsfunken anzudeuten vermochte: Es ist die Geschichte eines jungen Mädchens, das unter dem Druck ihres Clans, zur Selbstmordattentäterin werden sollte. An einem israelischen Kontrollpunkt sollte sie sich in die Luft sprengen. Die Armee hatte von dem Plan jedoch Wind bekommen und befahl den Umstehenden, sich auf den Boden zu werfen. Dann zog das Mädchen die Handgranate, die jedoch nicht zündete, und wurde verhaftet. Als sie nach Jahren aus dem Gefängnis entlassen wurde, bat sie um eine Begegnung mit dem Soldaten, der sie festgenommen hatte. Beide wurden Freunde. Jetzt ist sie eine Friedensaktivistin, und Doron wird als nächstes Buchprojekt diese Geschichte zusammen mit den Geschichten anderer Aussteiger aus dem Terrorismus aufzeichnen.
Einige Nummern kleiner scheitern dagegen die Figuren von Wilhelm Genazino, von denen stets nichts anderes als Stolpern und Scheitern zu erwarten ist. Damit sucht der Büchnerpreisträger in allen seinen Büchern, Nietzsches skeptische Diagnose umzusetzen, wonach Scheitern als „die einzige vernünftige Daseinsform von Wirklichkeit“ anzusehen sei. Die existentielle Nähe des Schriftstellers selbst zum Scheitern verpflichtet ihn freilich zu Empathie und Kollaboration. Er muss dazu nicht notwendigerweise immerzu leiden, nur um Kunst entstehen zu lassen, sondern kann stets auch wieder davonkommen, notfalls, sagt Genazino, „durch gespielte Abwesenheit“. Der Literaturwissenschaftler Joseph Vogl dreht die Sache wieder um und findet wenig Trost fürs Positive – außer dass er sich einig ist mit Nora Bossong, dass die Komödie die einzig adäquate literarische Gattung für alle Spielarten des Scheiterns sei: Unter Berufung auf Kafka gäbe es gewiss „unendlich viel Hoffnung, aber nicht für uns“.
Wenig Hoffnung gibt es nach den traurig stimmenden Diagnosen Swetlana Alexijwitschs für die Ukraine. Sie glaubt nicht, dass die Maidan-Bewegung in absehbarer Zeit auf Russland übergreifen wird. Gestützt wird diese Prophezeiung von den empirischen Befunden des Soziologen Gabowitsch. Den einzigen Lichtblick erkennt sie in einem „Grundproblem des 21. Jahrhunderts“, dass nämlich „niemand mehr sterben will – zum Glück“. Allerdings seien die Waffen ungleich verteilt: hier unerfahrene, schlecht ausgerüstete Wehrpflichtige, dort kampferprobte, waffenstarrende Söldner. Da bliebe nur, der Ukraine endlich Waffen zu liefern und sie ökonomisch am Leben zu erhalten. Im Übrigen sei allem Scheitern nur mit dem zu begegnen, was Alexijewitsch ihre Helden häufig sagen lässt: „Wir müssen darüber reden, was geschehen ist.“