Die einen mogeln bei der Steuererklärung, andere trinken nach Feierabend Bier, essen täglich Schokoriegel, radeln ohne Helm, verschwenden Plastiktüten oder versäumen ihre Vorsorgeuntersuchung – die Menschen haben viele Schwächen. So viele, dass ihre Verfehlungen in Wirklichkeit der Normalfall sind. Genau das macht die privaten Laster zur politischen Frage. Wenn nämlich mangelnde Selbstkontrolle und Gedankenlosigkeit zusammenkommen, hat das für die Menschen und ihre Gesellschaft nachteilige Folgen. Jeder weiß zum Beispiel, dass Energiesparen wichtig ist. Aber wie bringt man die Menschen dazu, es auch zu tun?
Menschen haben Laster: Jeder weiß, dass Rauchen schlecht ist. Aber wie bringt man die Menschen dazu, es zu lassen? Das Stichwort heißt "Nudging".
Die Bundesregierung sucht nun Hilfe bei drei Experten aus der Verhaltensforschung und Psychologie. Ihre Aufgabe: Sie sollen die Bürger dazu bringen, vernünftig zu handeln – ohne sie zu bevormunden. Ein freundschaftlicher Stups soll ausreichen, um eine Entscheidung in die richtige Richtung zu lenken. „Nudging“ heißt das Instrument, das hier genutzt wird, englisch für „anstupsen“.
„Ein Nudge ist etwas, das erstens Aufmerksamkeit erregt und zweitens das Verhalten von Menschen in vorhersagbarer Weise verändern kann, ohne Handlungsoptionen auszuschließen“, sagt Lucia Reisch, Professorin an der Copenhagen Business School und Mitglied des Sachverständigenrats für Verbraucherfragen. „Ein Nudge ist nur ein Anstoß, keine Anordnung; die Wahlfreiheit bleibt erhalten.“ Wenn in der Kantine also das Obst auf Augenhöhe platziert wird und die Nachspeisen eher versteckt, dann ist das ein Nudge. Den Pudding ganz vom Speiseplan zu streichen, hingegen nicht.
Angela Merkel ist nicht die erste Regierungschefin, die ihre Bürger mit wirkungsvollen kleinen Psychotricks auf den rechten Pfad lotsen möchte statt mit Verboten, Sanktionen und Strafen. Der britische Premierminister David Cameron wollte schon im Jahr 2010 wissen, wie sich die Bereitschaft zur Organspende verbessern lässt und wie man das Volk dazu bringt, mehr Geld in die Altersvorsorge zu stecken. Er gründete dazu das Behavioural Insights Team (siehe unten). Inzwischen gilt Camerons Schubsertruppe als Vorbild der Bewegung, an deren Arbeit sich auch die Bundesregierung orientieren will.
Eine ähnliche Beratereinheit wie die Briten hat die dänische Regierung eingerichtet, außerdem ist dort ein Forschungsverbund zu dem Thema sehr aktiv, das Danish Nudging Network (siehe unten). Auch in den USA wird längst gestupst: Kalifornische Kommunen etwa haben ihre Bewohner informiert, wie viel Strom sie im Vergleich zu ihren Nachbarn verbrauchen. Weltweit setzen 136 von 196 Nationen Nudging ein, haben Forscher rund um den britischen Geografen Mark Whitehead herausgefunden. 51 unter ihnen haben dazu eigens eine nationale Behörde geschaffen.
Populär gemacht haben die Methode der Ökonom Richard Thaler von der Universität Chicago und der Harvard-Jurist Cass Sunstein. Sie verdichten in ihrem 2008 veröffentlichten Buch „Nudge“ (deutscher Untertitel: „Wie man kluge Entscheidungen anstößt“) die Erkenntnisse der Verhaltensforschung auf 350 Seiten. Ihre wichtigste These: Im Alltag ist der Homo oeconomicus, dessen Verhalten stets vernunftgetrieben ist, selten anzutreffen. Die Menschen, so glauben die Wissenschaftler, können nicht richtig mit Risiken umgehen, es mangele ihnen an Rationalität. Zugespitzt formuliert: Thaler und Sunstein halten die Menschen für fehlbar – faul, dumm, gierig, schwach –, mithin für ökonomisch therapiebedürftig. Sie wollen ihnen helfen – indem sie ihre Schwächen ausnutzen.
Die Industrie tut das schon lange, allerdings ohne den moralischen Anspruch. So gelingt es Apple, mit Voreinstellungen seiner iPhones dafür zu sorgen, dass Käufer vor allem hauseigene Software verwenden. Geändert werden diese Vorgaben (sie sind hier der Nudge) nur selten, das wissen Verhaltensforscher, und das wusste offenbar auch Apple-Gründer Steve Jobs, der von sich behauptete, viele Bedürfnisse der Nutzer früher zu erkennen als diese selbst: „Es ist nicht die Aufgabe des Konsumenten, zu wissen, was er will.“
Auch Werber lieben Nudges. Moderne Fernsehspots zum Beispiel erzählen gern Geschichten von sympathischen Menschen und zeigen nur beiläufig die Handys, Autos, Biermarken, die uns zu cooleren, sportlicheren, geselligeren Typen machen sollen. So schlicht der Trick ist, er scheint zu funktionieren.
Ein Experiment der Cornell Universität zeigt: Hängt man Spiegel in Kantinen auf, greifen die Gäste seltener zu fetten Bagels und Doughnuts – sie sehen nämlich ihre überzähligen Pfunde. Der Spiegel gibt den Nudge. Ein anderes Beispiel findet sich auf der Herrentoilette des Amsterdamer Flughafens Schiphol – und nicht nur dort: Männer wollen zielen. Klebt man auf den Boden eines Pissoirs das Bild einer Fliege (es kann auch ein Fußballtor oder eine Zielscheibe sein), geht nicht so viel daneben.
Neu ist das alles nicht. Auch in Deutschland wird Nudging schon längst verwandt – in staatlichem Auftrag und selbstverständlich zu unserem Besten, wie die Bürgermanager stets beteuern. Wird eine Frau 50, bekommt sie automatisch eine Einladung zum Mammografie-Screening, damit Brustkrebs früh erkannt werden kann. Mit Termin und Ort. Das ist kein Zwang, das ist ein Nudge. Wer nicht hingehen will, lässt es eben bleiben. Alternativ könnte man Frauen einfach über Nutzen und Schaden des Röntgens informieren. Oder aber, wenn man denn überzeugt vom Sinn der Untersuchung ist, das Screening vorschreiben oder höhere Krankenversicherungsbeiträge von jenen fordern, die sich davor drücken.
Das Nudging ist die sanftere Methode: Niemand soll zu seinem Glück gezwungen werden, aber nachhelfen möchte man schon. Die Verfechter dieses Paternalismus halten es für legitim, das Verhalten der Menschen zu beeinflussen, um ihr Leben besser, gesünder und länger zu machen. „Wichtig ist, dass die Verhaltensänderung ohne jeden Druck erzeugt wird, sie muss freiwillig erfolgen“, sagt die Ökonomin Reisch, die sich vor allem mit Konsumverhalten und Gesundheitsfragen beschäftigt. „Nudges sind kein manipulatives Instrument, sondern transparent. Die Ziele, für die sie eingesetzt werden, müssen demokratisch legitimiert sein und die Wohlfahrt steigern.“
Kritiker halten die Stupser hingegen eher für rüde Rempler und warnen davor, dass die Menschen bevormundet und entmündigt werden – ohne, dass sie es merken. „Der Bürger wird wie ein Schaf behandelt, wie jemand, den man von außen steuern muss, dem man keine vernünftige Entscheidung zutraut“, findet der Psychologe Gerd Gigerenzer, Geschäftsführender Direktor am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin. Dem Forscher wäre es lieber, die Politiker würden auf Bildung setzen. So könnte man Kinder schon in der ersten Klasse mit gesundem Essen vertraut machen, ihnen später den Umgang mit Geld, Gesundheit, Alkohol und Handys beibringen. „In einer modernen Demokratie brauchen wir kompetente Bürger, nicht Menschen, die paternalistisch geleitet werden von der Wiege bis zur Bahre“, ist Gigerenzer überzeugt.
Vielen Bürgern dürfte die Vorstellung nicht gefallen, dass sie mit raffinierten psychologischen Kniffen zur Vernunft gebracht werden sollen. Denn: Otto Normalverbraucher ist ein Homo sapiens, auch wenn er Schokolade liebt.
Menschen haben Laster: Jeder weiß, dass Rauchen schlecht ist. Aber wie bringt man die Menschen dazu, es zu lassen? Das Stichwort heißt "Nudging".
Die Bundesregierung sucht nun Hilfe bei drei Experten aus der Verhaltensforschung und Psychologie. Ihre Aufgabe: Sie sollen die Bürger dazu bringen, vernünftig zu handeln – ohne sie zu bevormunden. Ein freundschaftlicher Stups soll ausreichen, um eine Entscheidung in die richtige Richtung zu lenken. „Nudging“ heißt das Instrument, das hier genutzt wird, englisch für „anstupsen“.
„Ein Nudge ist etwas, das erstens Aufmerksamkeit erregt und zweitens das Verhalten von Menschen in vorhersagbarer Weise verändern kann, ohne Handlungsoptionen auszuschließen“, sagt Lucia Reisch, Professorin an der Copenhagen Business School und Mitglied des Sachverständigenrats für Verbraucherfragen. „Ein Nudge ist nur ein Anstoß, keine Anordnung; die Wahlfreiheit bleibt erhalten.“ Wenn in der Kantine also das Obst auf Augenhöhe platziert wird und die Nachspeisen eher versteckt, dann ist das ein Nudge. Den Pudding ganz vom Speiseplan zu streichen, hingegen nicht.
Angela Merkel ist nicht die erste Regierungschefin, die ihre Bürger mit wirkungsvollen kleinen Psychotricks auf den rechten Pfad lotsen möchte statt mit Verboten, Sanktionen und Strafen. Der britische Premierminister David Cameron wollte schon im Jahr 2010 wissen, wie sich die Bereitschaft zur Organspende verbessern lässt und wie man das Volk dazu bringt, mehr Geld in die Altersvorsorge zu stecken. Er gründete dazu das Behavioural Insights Team (siehe unten). Inzwischen gilt Camerons Schubsertruppe als Vorbild der Bewegung, an deren Arbeit sich auch die Bundesregierung orientieren will.
Eine ähnliche Beratereinheit wie die Briten hat die dänische Regierung eingerichtet, außerdem ist dort ein Forschungsverbund zu dem Thema sehr aktiv, das Danish Nudging Network (siehe unten). Auch in den USA wird längst gestupst: Kalifornische Kommunen etwa haben ihre Bewohner informiert, wie viel Strom sie im Vergleich zu ihren Nachbarn verbrauchen. Weltweit setzen 136 von 196 Nationen Nudging ein, haben Forscher rund um den britischen Geografen Mark Whitehead herausgefunden. 51 unter ihnen haben dazu eigens eine nationale Behörde geschaffen.
Populär gemacht haben die Methode der Ökonom Richard Thaler von der Universität Chicago und der Harvard-Jurist Cass Sunstein. Sie verdichten in ihrem 2008 veröffentlichten Buch „Nudge“ (deutscher Untertitel: „Wie man kluge Entscheidungen anstößt“) die Erkenntnisse der Verhaltensforschung auf 350 Seiten. Ihre wichtigste These: Im Alltag ist der Homo oeconomicus, dessen Verhalten stets vernunftgetrieben ist, selten anzutreffen. Die Menschen, so glauben die Wissenschaftler, können nicht richtig mit Risiken umgehen, es mangele ihnen an Rationalität. Zugespitzt formuliert: Thaler und Sunstein halten die Menschen für fehlbar – faul, dumm, gierig, schwach –, mithin für ökonomisch therapiebedürftig. Sie wollen ihnen helfen – indem sie ihre Schwächen ausnutzen.
Die Industrie tut das schon lange, allerdings ohne den moralischen Anspruch. So gelingt es Apple, mit Voreinstellungen seiner iPhones dafür zu sorgen, dass Käufer vor allem hauseigene Software verwenden. Geändert werden diese Vorgaben (sie sind hier der Nudge) nur selten, das wissen Verhaltensforscher, und das wusste offenbar auch Apple-Gründer Steve Jobs, der von sich behauptete, viele Bedürfnisse der Nutzer früher zu erkennen als diese selbst: „Es ist nicht die Aufgabe des Konsumenten, zu wissen, was er will.“
Auch Werber lieben Nudges. Moderne Fernsehspots zum Beispiel erzählen gern Geschichten von sympathischen Menschen und zeigen nur beiläufig die Handys, Autos, Biermarken, die uns zu cooleren, sportlicheren, geselligeren Typen machen sollen. So schlicht der Trick ist, er scheint zu funktionieren.
Ein Experiment der Cornell Universität zeigt: Hängt man Spiegel in Kantinen auf, greifen die Gäste seltener zu fetten Bagels und Doughnuts – sie sehen nämlich ihre überzähligen Pfunde. Der Spiegel gibt den Nudge. Ein anderes Beispiel findet sich auf der Herrentoilette des Amsterdamer Flughafens Schiphol – und nicht nur dort: Männer wollen zielen. Klebt man auf den Boden eines Pissoirs das Bild einer Fliege (es kann auch ein Fußballtor oder eine Zielscheibe sein), geht nicht so viel daneben.
Neu ist das alles nicht. Auch in Deutschland wird Nudging schon längst verwandt – in staatlichem Auftrag und selbstverständlich zu unserem Besten, wie die Bürgermanager stets beteuern. Wird eine Frau 50, bekommt sie automatisch eine Einladung zum Mammografie-Screening, damit Brustkrebs früh erkannt werden kann. Mit Termin und Ort. Das ist kein Zwang, das ist ein Nudge. Wer nicht hingehen will, lässt es eben bleiben. Alternativ könnte man Frauen einfach über Nutzen und Schaden des Röntgens informieren. Oder aber, wenn man denn überzeugt vom Sinn der Untersuchung ist, das Screening vorschreiben oder höhere Krankenversicherungsbeiträge von jenen fordern, die sich davor drücken.
Das Nudging ist die sanftere Methode: Niemand soll zu seinem Glück gezwungen werden, aber nachhelfen möchte man schon. Die Verfechter dieses Paternalismus halten es für legitim, das Verhalten der Menschen zu beeinflussen, um ihr Leben besser, gesünder und länger zu machen. „Wichtig ist, dass die Verhaltensänderung ohne jeden Druck erzeugt wird, sie muss freiwillig erfolgen“, sagt die Ökonomin Reisch, die sich vor allem mit Konsumverhalten und Gesundheitsfragen beschäftigt. „Nudges sind kein manipulatives Instrument, sondern transparent. Die Ziele, für die sie eingesetzt werden, müssen demokratisch legitimiert sein und die Wohlfahrt steigern.“
Kritiker halten die Stupser hingegen eher für rüde Rempler und warnen davor, dass die Menschen bevormundet und entmündigt werden – ohne, dass sie es merken. „Der Bürger wird wie ein Schaf behandelt, wie jemand, den man von außen steuern muss, dem man keine vernünftige Entscheidung zutraut“, findet der Psychologe Gerd Gigerenzer, Geschäftsführender Direktor am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin. Dem Forscher wäre es lieber, die Politiker würden auf Bildung setzen. So könnte man Kinder schon in der ersten Klasse mit gesundem Essen vertraut machen, ihnen später den Umgang mit Geld, Gesundheit, Alkohol und Handys beibringen. „In einer modernen Demokratie brauchen wir kompetente Bürger, nicht Menschen, die paternalistisch geleitet werden von der Wiege bis zur Bahre“, ist Gigerenzer überzeugt.
Vielen Bürgern dürfte die Vorstellung nicht gefallen, dass sie mit raffinierten psychologischen Kniffen zur Vernunft gebracht werden sollen. Denn: Otto Normalverbraucher ist ein Homo sapiens, auch wenn er Schokolade liebt.