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Teurer Kick

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Pharrell Williams war am Dienstag bitter enttäuscht, wie er später über seinen Anwalt Howard King ausrichten ließ: „Er ist noch immer unerschütterlich davon überzeugt, dieses Lied aus eigenem Herzen, eigenem Verstand und eigener Seele heraus erschaffen zu haben.“ Dieses Lied, das ist der Pop-Song „Blurred Lines“, ein Sommerhit im Jahr 2013 von Williams, Robin Thicke und dem Rapper T.I. – und die Geschworenen in Los Angeles haben entschieden, dass es Marvin Gayes „Got to Give It Up“ aus dem Jahr 1977 zu sehr ähnelt.



Die Ähnlichkeit des Songs "Blurred Lines" mit Marvin Gayes "Got to Give it up" kostet Pharrell Williams 7,4 Millionen Euro.

Der 41-jährige Williams und der 38-jährige Thicke müssen als Autoren des Hits knapp 7,4 Millionen Dollar an die Nachkommen von Gaye bezahlen, der Rapper T.I. und das Plattenlabel Interscope wurden nicht belangt. Gaye ist 1984 von seinem Vater erschossen worden, er hatte sein geistiges Eigentum seinen Kindern Nona, Frankie und Marvin III. vermacht. Die hatten schon im August 2013 geklagt. Nona sagte nach dem Urteil: „Ich fühle mich jetzt frei – befreit von den Ketten von Pharrell Williams und Robin Thicke und den Lügen, die erzählt wurden.“

Der Prozess war deshalb interessant, weil er auch einen Einblick lieferte in den Entstehungsprozess kommerziell erfolgreicher Songs und eine ganze Branche. Auch wenn bei den Anhörungen stets von Kreativität, Inspiration und Hommage die Rede war, ging es zunächst einmal um sehr viel Geld.

Schon die Anklageschrift machte deutlich, dass die Gaye-Erben das Vermächtnis ihres Vaters nicht dadurch ehren wollen, indem „Blurred Lines“ nie mehr im Radio gespielt wird und sämtliche Downloads und Konzerte verboten werden – es ging einzig um finanzielle Kompensation. Eine einstweilige Verfügung will der Anwalt der Gaye-Familie erst jetzt anstreben.

Dazu musste erst einmal festgestellt werden, wie viel sich mit so einem Song heutzutage eigentlich verdienen lässt, wo doch die Musikindustrie – je nach Metapher – noch immer am Boden liegt, in den Seilen hängt oder den Bach runtergeht. „Blurred Lines“ führte in vierzehn Ländern die Charts an, alleine in den USA wurde der Song mehr als sieben Millionen Mal verkauft, dazu hörten ihn laut Interscope mehr als 242 Millionen Menschen im Radio. Es kam auch heraus, dass der Song durch Verkäufe, Downloads und Videostreams 23,8 Millionen Dollar eingespielt hat – Konzerterlöse, Einnahmen aus Folgeprojekten (Williams etwa verdiente als Juror der TV-Sendung „The Voice“ etwa acht Millionen Dollar) und Merchandising wurden nicht mitgerechnet. Nach Abzug der Vermarktungs- und Distributionskosten von sieben Millionen Dollar sollen Williams und Thicke jeweils mehr als sieben Millionen Dollar verdient haben.

Anschließend ging es darum, wie das Lied mit den frivolen Textzeilen und dem auf Skandal getrimmten Oben-Ohne-Video eigentlich zustande gekommen ist. In mehreren Interviews hatte Thicke angegeben, dass er sich von Williams einen Song wie „Got To Give It Up“ gewünscht habe. Williams wiederum hatte in Interviews gesagt, dass er beim Komponieren „so getan habe“, als sei er Marvin Gaye. Während der Verhandlungen zeichneten sie dann ein anderes Bild von der Entstehung: Thicke gab an, ohnehin andauernd zugedröhnt gewesen zu sein („high von Alkohol und Vicodin“). Williams behauptete, das Lied innerhalb einer Stunde geschrieben, in der gleichen Nacht mit Thicke in den Glenwood Place Studios im Norden von Los Angeles aufgenommen und den Rap von T.I. kurz darauf hinzugefügt zu haben. Einer der kommerziell erfolgreichsten Songs des Jahres 2013 wurde also in weniger als 24 Stunden produziert.

„Als Künstler bekommt man einen Kick, wenn man neue Dinge über den Äther sendet. Das Letzte, was man möchte, ist von jemandem zu nehmen, den man liebt“, sagte Williams in der Verhandlung, gestand beim Vorspielen der beiden Basslinien jedoch: „Das hört sich an, als würden Sie das gleiche Ding spielen.“ Natürlich sei das Haupt-Instrument ein Fender-Rhodes-Keyboard, es gebe diese prägende Basslinie und eine Kuhglocke komme auch noch vor. Die Nachkommen von Gaye würden jedoch, so sagt Williams, darauf bestehen, nicht nur einen Song zu besitzen, sondern ein komplettes Genre: „Ich habe nicht kopiert, sondern nur gefühlt. Ich habe den Vibe der späten Siebzigerjahre kanalisiert.“

Durch diese Aussage wurde der Prozess natürlich noch einmal auf eine andere, größere Ebene gehoben. Nicht nur im Mainstream-Pop, auch in anderen Genres wie Hip-Hop und Heavy Metal verschwimmen mitunter die Grenzen zwischen Hommage und Plagiat. Künstler beziehen sich aufeinander, schicken sich gegenseitig Referenzen, entwickeln Werke weiter. „The Message“ von Grandmaster Flash & The Furios Five etwa ist eine politisierte Fortsetzung des Partyklassikers „Rapper’s Delight“ der Sugarhill Gang, „Jungle Boogie“ von Kool & The Gang kommt in Songs von Madonna, Janet Jackson und den Beastie Boys vor, James Brown und Public Enemy sind laut WhoSampled die am häufigsten zitierten Künstler.

Das gehört zur Musikgeschichte mit dem einen Unterschied, dass diese Referenzen heutzutage in Datenbanken gesammelt sind – jederzeit abrufbar, aber auch jederzeit überprüfbar. Und mit dem zweiten Unterschied, dass Thicke und Williams ihre musikalische Hommage nicht versteckt verschickten, sondern den künstlerischen Wert ihres Werks dadurch erhöhen wollten, indem sie in zahlreichen Interviews damit prahlten, sich an Marvin Gaye orientiert zu haben. Und natürlich mit dem dritten Unterschied, dass sich bei „Blurred Lines“ eine Klage und ein langwieriges Gerichtsverfahren aufgrund der zu erwartenden Millionen tatsächlich lohnte. Musikwissenschaftler und Anwälte erwarten nun, dass das Urteil weitere Klagen zur Folge haben werde.

Williams’ Anwalt Howard King sagte: „Dieses Urteil betrifft die Kreativität junger Menschen, die darauf hoffen, auf den Schultern anderer Musiker stehen und Kunst schaffen zu dürfen.“ Natürlich meinte er damit vor allem seinen Mandanten. Der hatte im vergangenen Jahr über seine Plattenfirma erlaubt, dass jeder seinen Song „Happy“ verwenden und damit Videos drehen darf. Millionen Menschen klatschten in die Hände, sie fühlten sich ein paar Minuten lang wie ein Zimmer ohne Dach und wussten, was Glücklichsein bedeutet.

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