Als zu Beginn der Woche das neue Album „To Pimp AButterfly“ des amerikanischen Rappers Kendrick Lamar erschien, war schnell von einem Meisterwerk die Rede. Alles andere wäre auch eine echte Enttäuschung gewesen.
Der König des Westcoast-Rap tritt seine Regentschaft an: Kendrick Lamar.
Denn die alten Könige des Westcoast Rap, Dr. Dre, Snoop Dogg und The Game, hatten ja nicht umsonst das Nachwuchstalent Lamar schon vor Jahren in den Himmel gehoben und ihm freiwillig das Zepter zu ihrem Reich übergeben. Sein 2012 erschienenes Album „Good kid, m.A.A.dcity“ war auch sonst über alle Maßen gefeiert worden, weshalb von dem 27 Jahre alten Musiker aus L.A.s berüchtigtem Gang-Viertel Compton nun nichts anderes mehr erwartet wird als: größte Großtaten.
Und ja, man spürt vom ersten Song an, dass hier Außergewöhnliches passiert. Es knistert kurz, bevor man zu Beginn von „Wesley’s Theory“ ein Sample hört. Der jamaikanische Sänger Boris Gardiners singt butterweich die Titelzeile seines 1973 veröffentlichten, schmalzig-manifesthaften Songs „Every Nigger Is AStar“. Es klingt aber zuerst noch etwa so, als liefe man auf dem Flur auf eine Tür zu, hinter der der Song läuft. Dann geht die Tür auf, man lauscht dem Song noch eine kleine Weile ungedämpft, wird so angeschmeichelt von zwielichtig-süßlicher Retroseligkeit, mit der Gardiner alles Negative aus dem alten Schimpfwort heraussäuseln wollte, bevor die Platte hängen bleibt: „StarStaSta...“
In diesem Moment ruft jemand „Hit me!“ dazwischen. Es klingt heiser und leicht übergeschnappt. Das ist George Clinton, ja genau, der George Clinton, der mittlerweile 73-jährige Säulenheilige des P-Funk. Woraufhin eine Beatspur einsetzt, die sich mit Flying Lotus und Ronald Colson zwei der findigsten jüngeren Avantgarde-Hip-Hop-Tüftler ausgedacht haben: Da wobbelt ein agiler, etwas synthiehaft klingender Bass los, und ein vermutlich echtes Schlagzeug setzt mit einem zügigen Backbeat ein, der aber nicht, wie in der zeitgenössischen Bassmusik üblich, brachial von unten schiebt. Es ist eher ein energisches, leicht dumpfes Patschen, treibend, aber nicht zu dominant, gerade so präsent, dass der Eindruck entsteht, dass hier zwar etwas eindeutig vom Funk der Siebziger inspiriert ist, aber doch nicht nur altmodisch klingen will. Darüber tupft ein wabernder Synthie ein paar jazzige Töne, die sich mal wie eine leidende Flöte anhören, dann wieder eher wie eine betrunkene Trompete; und George Clinton gibt dem jungen Thronfolger noch eine Mahnung zur Selbstkritik mit auf den Weg – „Are you really who they idolize?“ Bist du wirklich der, den sie zu ihrem Idol gemacht haben?
Und dann: Auftritt Kendrick Lamar. Wobei seine Stimme erst mal mindestens vervierfacht wird. Kurzer, ganz breiter Stimmpinseleinsatz also, danach eine ungewöhnlich defensive, fast zerknirschte, aber immer irrsinnig wortgewandte, nie plumpe Reflexion auf die Untiefen des frühen Ruhms, gefolgt von einer Pre-Hook, die mit dem Klischee jongliert, dass Schwarze nicht mit Geld umgehen können, was wiederum auf eine Nummer des schwarzen Comediens Dave Chapelle anspielt, gefolgt von einem Statement der nächsten lebenden Legende, Dr. Dre. Der Rapper und Über-Produzent erinnert seinen Protegé Lamar daran, wie leicht es ist, berühmt zu werden – und wie schwer, berühmt zu bleibe, woraufhin Lamar den zweiten Vers als cleveres Rollenspiel leicht beschleunigt erst mal ohne Beat rappt, über eine aufsteigende, Spannung erzeugende Bassline. Er ist jetzt Uncle Sam, die Karikatur des skrupellosen weißen amerikanischen Geschäftemachers, der sich an den schwarzen Jungstar heranmacht und ihm das Blaue vom Himmel verspricht. Dann noch mal George Clinton und eine bittere Pointe am Schluss – wobei das nun viele Worte waren und doch kaum genug, um einen annähernd vollständigen Eindruck davon vermitteln zu können, was hier in einem einzigen Song eigentlich los ist.
Und von diesen irrsinnig anspielungsreichen und pophistorisch so ultra-informierten Monstertracks gibt es – mithilfe einschlägig-kongenialer Spezialisten wie Bilal, Mark Spears oder Snoop Dogg – noch 15 andere auf dem Album. Darunter nicht zuletzt etwa „King Kunta“, „The Blacker The Berry“ oder der lange vorab veröffentlichte, wirklich unwiderstehlich galoppierende Hit „I“ in einer (simulierten) Live-Version. So komplette, narrativ so dichte Pop-Alben wie diese gibt es nur alle paar Jahre einmal. Wenn überhaupt. Kendrick Lamar möchte ja nicht einfach ein paar Geschichten abwerfen. Er will auf dem Album eine ganze komplexe Welt wieder in den Griff bekommen. Und dennoch fühlt man sich hier sofort auch unmittelbar fremd, trotz all der hinreißenden musikalischen Raffinesse. Fremder, als man es von anderen Mainstream-Hip-Hop-Geniestreichen der jüngeren Vergangenheit und Gegenwart, also etwa von den Emo-Orgien von Drake oder den Ego-Orgien von Kanye West gewohnt ist. Sogar (oder gerade) der absurd materialistische zeitgenössische amerikanische Gangster-Rap ist einem hier in Europa viel näher als „To Pimp AButterfly“.
Wie kann das sein?
In Peter Sloterdijks zeitdiagnostischem Großessay „Du musst dein Leben ändern“ findet sich der Gedanke, dass die „Entspiritualisierung der Askesen“ und die „Informalisierung der Spiritualität“ die „atmosphärisch mächtigsten Ereignisse in der aktuellen Geistesgeschichte der Menschheit“ seien. Wobei man Askese hier im Großen und Ganzen als Drang zur Selbstbehauptung durch fleißige Selbstverbesserung verstehen kann und Spiritualität als Sehnsucht nach einer höheren, außeralltäglichen Sinnreserve.
Beides ist natürlich in erster Linie eine Folge der Tatsache, dass offenbar zwar die Plausibilität der Religion(en) im Westen stark abgenommen hat, nicht aber die Plausibilität der Spiritualität. Das spirituelle Vakuum in jedem Einzelnen will weiter gefüllt werden. Kulturelle Sphären, die das für Sloterdijk besorgen, sind der Sport und die „populäre Neo-Mystik“.
Sloterdijk nennt für die „Neo-Mystik“ keine direkten Beispiele, man darf sich darunter aber getrost alles zwischen Yoga und Scientology vorstellen. Und wohl gerade auch die Popmusik, wenn er davon spricht, dass die Neo-Mystik als postmoderne Andacht den „zeitgenössischen Einzelnen“ mit „unvorhersehbaren Blitzen innerer Ausnahmezustände“ überziehe.
Mit anderen Worten: Ein Album wie „To Pimp AButterfly“ irritiert auf dieser Seite der Welt, weil Lamar als Hip-Hop-Star natürlich erst einmal die Informalisierung der Spiritualität in Reinform repräsentiert. In keiner Kunst wird schließlich der Selbstbehauptung unter den Bedingungen des Raubtierkapitalismus so gehuldigt wie im Mainstream-Rap.
Als Werk, das sich dann jedoch unmissverständlich darum dreht, was es bedeutet, in den USA schwarz zu sein, verweigert „To Pimp AButterfly“ von der ersten Zeile an („Every nigger is astar“), allerdings überhaupt nicht aggressiv, seine eilige Verallgemeinerbarkeit. Der Mangel an Universalisierbarkeit eröffnet diesem Album in gewisser Weise aber natürlich überhaupt erst die Möglichkeit zu dieser auch poetisch-literarisch so eindrucksvoll vielschichtigen Vivisektion seiner Welt – und damit zu seiner raren Größe.
Im Londoner Guardian bemerkte der britische Schriftsteller Tom McCarthy in einem Essay zur Lage des zeitgenössischen Romans vor ein paar Tagen, dass James Joyce heute keine Romane mehr schreiben würde. Ein Erzählgenie wie er, das mit aller Macht der Kreativität seine in alle Richtungen auseinanderdriftende Gegenwart in den Griff zu bekommen versucht – so ein Genie würde heute für Google arbeiten. Als anonymer Metatist im Werkraum eines Konzerns, der größer und mächtiger als alles ist, was sich ein einzelner Mensch, und sei es der begnadetste Schriftsteller, bislang vorstellen konnte.
Womöglich ist das so. Viel tröstlicher und greifbarer erscheint vorerst aber doch die Vorstellung, dass er auch ein Rapper wie Kendrick Lamar sein könnte.
Der König des Westcoast-Rap tritt seine Regentschaft an: Kendrick Lamar.
Denn die alten Könige des Westcoast Rap, Dr. Dre, Snoop Dogg und The Game, hatten ja nicht umsonst das Nachwuchstalent Lamar schon vor Jahren in den Himmel gehoben und ihm freiwillig das Zepter zu ihrem Reich übergeben. Sein 2012 erschienenes Album „Good kid, m.A.A.dcity“ war auch sonst über alle Maßen gefeiert worden, weshalb von dem 27 Jahre alten Musiker aus L.A.s berüchtigtem Gang-Viertel Compton nun nichts anderes mehr erwartet wird als: größte Großtaten.
Und ja, man spürt vom ersten Song an, dass hier Außergewöhnliches passiert. Es knistert kurz, bevor man zu Beginn von „Wesley’s Theory“ ein Sample hört. Der jamaikanische Sänger Boris Gardiners singt butterweich die Titelzeile seines 1973 veröffentlichten, schmalzig-manifesthaften Songs „Every Nigger Is AStar“. Es klingt aber zuerst noch etwa so, als liefe man auf dem Flur auf eine Tür zu, hinter der der Song läuft. Dann geht die Tür auf, man lauscht dem Song noch eine kleine Weile ungedämpft, wird so angeschmeichelt von zwielichtig-süßlicher Retroseligkeit, mit der Gardiner alles Negative aus dem alten Schimpfwort heraussäuseln wollte, bevor die Platte hängen bleibt: „StarStaSta...“
In diesem Moment ruft jemand „Hit me!“ dazwischen. Es klingt heiser und leicht übergeschnappt. Das ist George Clinton, ja genau, der George Clinton, der mittlerweile 73-jährige Säulenheilige des P-Funk. Woraufhin eine Beatspur einsetzt, die sich mit Flying Lotus und Ronald Colson zwei der findigsten jüngeren Avantgarde-Hip-Hop-Tüftler ausgedacht haben: Da wobbelt ein agiler, etwas synthiehaft klingender Bass los, und ein vermutlich echtes Schlagzeug setzt mit einem zügigen Backbeat ein, der aber nicht, wie in der zeitgenössischen Bassmusik üblich, brachial von unten schiebt. Es ist eher ein energisches, leicht dumpfes Patschen, treibend, aber nicht zu dominant, gerade so präsent, dass der Eindruck entsteht, dass hier zwar etwas eindeutig vom Funk der Siebziger inspiriert ist, aber doch nicht nur altmodisch klingen will. Darüber tupft ein wabernder Synthie ein paar jazzige Töne, die sich mal wie eine leidende Flöte anhören, dann wieder eher wie eine betrunkene Trompete; und George Clinton gibt dem jungen Thronfolger noch eine Mahnung zur Selbstkritik mit auf den Weg – „Are you really who they idolize?“ Bist du wirklich der, den sie zu ihrem Idol gemacht haben?
Und dann: Auftritt Kendrick Lamar. Wobei seine Stimme erst mal mindestens vervierfacht wird. Kurzer, ganz breiter Stimmpinseleinsatz also, danach eine ungewöhnlich defensive, fast zerknirschte, aber immer irrsinnig wortgewandte, nie plumpe Reflexion auf die Untiefen des frühen Ruhms, gefolgt von einer Pre-Hook, die mit dem Klischee jongliert, dass Schwarze nicht mit Geld umgehen können, was wiederum auf eine Nummer des schwarzen Comediens Dave Chapelle anspielt, gefolgt von einem Statement der nächsten lebenden Legende, Dr. Dre. Der Rapper und Über-Produzent erinnert seinen Protegé Lamar daran, wie leicht es ist, berühmt zu werden – und wie schwer, berühmt zu bleibe, woraufhin Lamar den zweiten Vers als cleveres Rollenspiel leicht beschleunigt erst mal ohne Beat rappt, über eine aufsteigende, Spannung erzeugende Bassline. Er ist jetzt Uncle Sam, die Karikatur des skrupellosen weißen amerikanischen Geschäftemachers, der sich an den schwarzen Jungstar heranmacht und ihm das Blaue vom Himmel verspricht. Dann noch mal George Clinton und eine bittere Pointe am Schluss – wobei das nun viele Worte waren und doch kaum genug, um einen annähernd vollständigen Eindruck davon vermitteln zu können, was hier in einem einzigen Song eigentlich los ist.
Und von diesen irrsinnig anspielungsreichen und pophistorisch so ultra-informierten Monstertracks gibt es – mithilfe einschlägig-kongenialer Spezialisten wie Bilal, Mark Spears oder Snoop Dogg – noch 15 andere auf dem Album. Darunter nicht zuletzt etwa „King Kunta“, „The Blacker The Berry“ oder der lange vorab veröffentlichte, wirklich unwiderstehlich galoppierende Hit „I“ in einer (simulierten) Live-Version. So komplette, narrativ so dichte Pop-Alben wie diese gibt es nur alle paar Jahre einmal. Wenn überhaupt. Kendrick Lamar möchte ja nicht einfach ein paar Geschichten abwerfen. Er will auf dem Album eine ganze komplexe Welt wieder in den Griff bekommen. Und dennoch fühlt man sich hier sofort auch unmittelbar fremd, trotz all der hinreißenden musikalischen Raffinesse. Fremder, als man es von anderen Mainstream-Hip-Hop-Geniestreichen der jüngeren Vergangenheit und Gegenwart, also etwa von den Emo-Orgien von Drake oder den Ego-Orgien von Kanye West gewohnt ist. Sogar (oder gerade) der absurd materialistische zeitgenössische amerikanische Gangster-Rap ist einem hier in Europa viel näher als „To Pimp AButterfly“.
Wie kann das sein?
In Peter Sloterdijks zeitdiagnostischem Großessay „Du musst dein Leben ändern“ findet sich der Gedanke, dass die „Entspiritualisierung der Askesen“ und die „Informalisierung der Spiritualität“ die „atmosphärisch mächtigsten Ereignisse in der aktuellen Geistesgeschichte der Menschheit“ seien. Wobei man Askese hier im Großen und Ganzen als Drang zur Selbstbehauptung durch fleißige Selbstverbesserung verstehen kann und Spiritualität als Sehnsucht nach einer höheren, außeralltäglichen Sinnreserve.
Beides ist natürlich in erster Linie eine Folge der Tatsache, dass offenbar zwar die Plausibilität der Religion(en) im Westen stark abgenommen hat, nicht aber die Plausibilität der Spiritualität. Das spirituelle Vakuum in jedem Einzelnen will weiter gefüllt werden. Kulturelle Sphären, die das für Sloterdijk besorgen, sind der Sport und die „populäre Neo-Mystik“.
Sloterdijk nennt für die „Neo-Mystik“ keine direkten Beispiele, man darf sich darunter aber getrost alles zwischen Yoga und Scientology vorstellen. Und wohl gerade auch die Popmusik, wenn er davon spricht, dass die Neo-Mystik als postmoderne Andacht den „zeitgenössischen Einzelnen“ mit „unvorhersehbaren Blitzen innerer Ausnahmezustände“ überziehe.
Mit anderen Worten: Ein Album wie „To Pimp AButterfly“ irritiert auf dieser Seite der Welt, weil Lamar als Hip-Hop-Star natürlich erst einmal die Informalisierung der Spiritualität in Reinform repräsentiert. In keiner Kunst wird schließlich der Selbstbehauptung unter den Bedingungen des Raubtierkapitalismus so gehuldigt wie im Mainstream-Rap.
Als Werk, das sich dann jedoch unmissverständlich darum dreht, was es bedeutet, in den USA schwarz zu sein, verweigert „To Pimp AButterfly“ von der ersten Zeile an („Every nigger is astar“), allerdings überhaupt nicht aggressiv, seine eilige Verallgemeinerbarkeit. Der Mangel an Universalisierbarkeit eröffnet diesem Album in gewisser Weise aber natürlich überhaupt erst die Möglichkeit zu dieser auch poetisch-literarisch so eindrucksvoll vielschichtigen Vivisektion seiner Welt – und damit zu seiner raren Größe.
Im Londoner Guardian bemerkte der britische Schriftsteller Tom McCarthy in einem Essay zur Lage des zeitgenössischen Romans vor ein paar Tagen, dass James Joyce heute keine Romane mehr schreiben würde. Ein Erzählgenie wie er, das mit aller Macht der Kreativität seine in alle Richtungen auseinanderdriftende Gegenwart in den Griff zu bekommen versucht – so ein Genie würde heute für Google arbeiten. Als anonymer Metatist im Werkraum eines Konzerns, der größer und mächtiger als alles ist, was sich ein einzelner Mensch, und sei es der begnadetste Schriftsteller, bislang vorstellen konnte.
Womöglich ist das so. Viel tröstlicher und greifbarer erscheint vorerst aber doch die Vorstellung, dass er auch ein Rapper wie Kendrick Lamar sein könnte.