Niemals in der Geschichte Deutschlands oder Europas wurde so viel über einen Finger geredet. Über einen Mittelfinger. In einer Zeit der anhaltenden Krise, die sich in einigen Ecken Europas längst zu einer humanitären Krise ausgewachsen hat, haben wir nichts Besseres zu tun, als über einen Finger zu reden.
Was stimmt denn nun? In Jauchs Sendung war der Mittelfinger zu sehen. Böhmermann behauptet, im Original haben Varoufakis gar keinen Finger gezeigt und jetzt gibt es auch noch eine Version mit dem Zeigefinger.
Yanis Varoufakis ist nicht der erste Grieche, der den Mittelfinger gezeigt hat. Der Philosoph Diogenes richtete bereits im vierten Jahrhundert vor Christus diese Geste gegen den Redner Demosthenes. Er erklärte das folgendermaßen: „Die meisten Menschen sind der Verrücktheit so nahe, dass ein gereckter Finger den ganzen Unterschied macht. Wenn du hingehst und deinen ausgestreckten Mittelfinger zeigst, wird dich jemand für verrückt halten, wenn es aber der kleine Finger ist, wird er es nicht tun.“ Warum also so viel Aufsehen um Varoufakis’ Mittelfinger?
Wir sehen uns hier mit einer neuen Form des Kapitalismus konfrontiert, die am besten als „Semio-Kapitalismus“ beschrieben werden könnte. Das ist ein Kapitalismus, der durch die Akkumulation und Interpretation von Zeichen funktioniert. Nehmen wir das folgende Beispiel: Sobald Syriza in Griechenland an die Macht kam, konzentrierten sich die meisten Kommentare, auch die der seriösen Medien, darauf, dass Tsipras keine Krawatte umgebunden hat und Varoufakis eine Lederjacke trägt. Das war ein klares Zeichen, dass die gegenwärtige griechische Regierung zumindest ungewöhnlich sei. Zweites Beispiel: Ob Angela Merkel lächelt oder nicht, kann ein Zeichen für die Märkte sein, darauf zu „reagieren“, so als ob sie Menschen wären. Jedes Mal, wenn man hört, dass „Märkte reagieren“, kann man sich sicher sein, dass man sich in der Sphäre des „Semio-Kapitalismus“ befindet. Oder nehmen Sie einen der Broker-Filme, von Oliver Stones „Wall Street“ bis zu „Margin Call“ oder „Wolf of Wall Street“. Sie alle zeigen, dass das Kaufen und Verkaufen von Aktien größtenteils von Gerüchten, Spekulationen, Ansehen abhängt und dass ohne Kommunikation (Zeichen) keine Akkumulation (von Kapital) stattfindet.
Insofern ist es wenig verwunderlich, dass ein einzelner gereckter Mittelfinger zu einem derart wichtigen Zeichen wurde, dass der deutsche Finanzminister Schäuble folgerte, die Griechen hätten „alles Vertrauen zerstört“.
Während des „Subversive Festivals“, für das ich Varoufakis 2013 als einen von vielen Gästen persönlich eingeladen hatte, war dieser noch nicht Finanzminister. Er kam als Autor von „Der globale Minotaurus“, einer präzisen Analyse der gegenwärtigen Finanzkrise. Er war einer von hundert Gästen, darunter Oliver Stone, Aleida Guevara, Tariq Ali und Slavoj iek. Das Überthema des Festivals war in diesem Jahr „Die Zukunft Europas“. Es ging darum zu zeigen, dass die Sparmaßnahmen und die aktuelle Ausrichtung der EU für uns alle keine gute Zukunft bringen können, und darum, dass wir untereinander Solidarität brauchen – auch zwischen Deutschen und Griechen. Auf dem Festival wurde in keiner Weise Hass zwischen den unterschiedlichen Nationen gefördert, im Gegenteil, es ging darum, unsere gegenwärtige tragische Situation zu befragen und eine mögliche gemeinsame Zukunft zu imaginieren.
Wenn Varoufakis aber damals noch nicht Finanzminister war, warum hat der deutsche Sender dann seinen Finger bewusst aus dem Zusammenhang gerissen und die Szene als eine Geste des aktuellen Finanzministers dargestellt?
Wie mittlerweile jeder weiß, der das Originalvideo gesehen hat, sprach Varoufakis damals über eine hypothetische Situation: Er berief sich auf einen Zeitpunkt im Januar 2010, als Griechenland in seinen Augen den Staatsbankrott erklären hätte sollen – ohne die Euro-Zone zu verlassen. Die Worte „Deutschland den Finger zu zeigen“ richteten sich hier ganz eindeutig nicht gegen einen Staat oder gegen ein Volk, sondern gegen eine deutsche Regierung, die zu dieser Zeit die hauptsächliche Vertreterin der desaströsen EU-Sparpolitik war und dies auch heute noch ist.
Also noch mal: Warum und wie wurde ein Mittelfinger zu einem Symbol historischen Ausmaßes? Es liegt an jenem „Semio-Kapitalismus“, der es so einfach macht, von wichtigen Fragen abzulenken, ja diese sogar auszulöschen. Es ist kinderleicht, Varoufakis’ Glamour-Bilder in Paris Match zu kritisieren oder seinen Mittelfinger, aber es ist unmöglich, eine ernsthafte Diskussion über Griechenlands Forderungen nach deutschen Kriegsreparationen zu führen. Es ist einfach, über Tsipras’ Kleidungsstil zu reden, aber es ist immer noch nicht möglich, ernsthaft über die größte Schuldentilgung des 20. Jahrhunderts zu diskutieren, bei der den Deutschen im Zuge des Londoner Abkommens 62 Prozent ihrer Schulden erlassen wurden.
Der Ökonom John Maynard Keynes sagte, wenn du Schulden in Höhe von tausend Pfund bei der Bank hast, die du nicht zurückzahlen kannst, dann hast du ein Problem. Wenn du aber zehn Millionen Pfund nicht zurückzahlen kannst, dann hat auch deine Bank ein Problem. Das ist die beste Beschreibung der aktuellen Systemblockade in Europa. Im Zusammenhang mit dem Finger-Skandal muss gesagt werden, dass Griechenland nicht tatsächlich Deutschland oder den Deutschen Geld schuldet, sondern privaten Banken und dem Finanzsektor, und dass eine kleine Minderheit versucht, Finger, Krawatten und Jacken dazu zu benutzen, die Aufmerksamkeit von dieser einfachen Tatsache abzulenken.
Wenn man aus dem Finger-Skandal eine Lektion lernen kann, dann die folgende: Zeichen sind Waffen; jeder Kampf ist auch ein semantischer, das heißt ein Kampf um die Deutungshoheit von Zeichen. Hier gilt die Antwort, die Humpty Dumpty auf Alices Frage „Wie kannst du einem Wort so viele verschiedene Bedeutungen geben?“ lieferte: „Die Frage ist, wer die Macht hat, das ist alles.“
Der Finanzkapitalismus funktioniert dadurch, dass er die Macht über die Bedeutung hat; er kann durch Spekulationen Ansehen und sogar durch Gerüchte Wert schaffen. Bezogen auf die Krise Europas: Die Frage ist, wer das Sagen hat, das ist alles. Er entscheidet dann auch darüber, was Varoufakis’ Finger wirklich bedeutet. Die Berichterstattung der letzten Tage hat gezeigt: Sobald der Finger da war, war es unwichtig, dass das Ganze 2013 passiert war, und zwar in einem ganz anderen Zusammenhang. Die jüngste Wendung im Stinkefinger-Skandal, bei der Jan Böhmermann beansprucht, den Finger nachträglich in die Videoaufnahme hineinmontiert zu haben, ist nur ein weiterer Beweis dafür, dass wir wirklich eine gefährliche Zeit erreicht haben. Eine Zeit, in der es nicht mal mehr wichtig ist, ob ein Finger gefälscht ist oder real.
Eines allerdings ist klar: Nicht nur Deutschland, sondern ganz Europa wurde der Mittelfinger gezeigt, wenn wir es nicht mehr schaffen, eine ernsthafte und erwachsene Debatte über die europäische Krise zu führen. Dieser Mittelfinger ist das wahre Symbol für die Krise Europas.
Der Autor ist Philosoph und Direktor des „Subversive Festival“ in Zagreb.
Was stimmt denn nun? In Jauchs Sendung war der Mittelfinger zu sehen. Böhmermann behauptet, im Original haben Varoufakis gar keinen Finger gezeigt und jetzt gibt es auch noch eine Version mit dem Zeigefinger.
Yanis Varoufakis ist nicht der erste Grieche, der den Mittelfinger gezeigt hat. Der Philosoph Diogenes richtete bereits im vierten Jahrhundert vor Christus diese Geste gegen den Redner Demosthenes. Er erklärte das folgendermaßen: „Die meisten Menschen sind der Verrücktheit so nahe, dass ein gereckter Finger den ganzen Unterschied macht. Wenn du hingehst und deinen ausgestreckten Mittelfinger zeigst, wird dich jemand für verrückt halten, wenn es aber der kleine Finger ist, wird er es nicht tun.“ Warum also so viel Aufsehen um Varoufakis’ Mittelfinger?
Wir sehen uns hier mit einer neuen Form des Kapitalismus konfrontiert, die am besten als „Semio-Kapitalismus“ beschrieben werden könnte. Das ist ein Kapitalismus, der durch die Akkumulation und Interpretation von Zeichen funktioniert. Nehmen wir das folgende Beispiel: Sobald Syriza in Griechenland an die Macht kam, konzentrierten sich die meisten Kommentare, auch die der seriösen Medien, darauf, dass Tsipras keine Krawatte umgebunden hat und Varoufakis eine Lederjacke trägt. Das war ein klares Zeichen, dass die gegenwärtige griechische Regierung zumindest ungewöhnlich sei. Zweites Beispiel: Ob Angela Merkel lächelt oder nicht, kann ein Zeichen für die Märkte sein, darauf zu „reagieren“, so als ob sie Menschen wären. Jedes Mal, wenn man hört, dass „Märkte reagieren“, kann man sich sicher sein, dass man sich in der Sphäre des „Semio-Kapitalismus“ befindet. Oder nehmen Sie einen der Broker-Filme, von Oliver Stones „Wall Street“ bis zu „Margin Call“ oder „Wolf of Wall Street“. Sie alle zeigen, dass das Kaufen und Verkaufen von Aktien größtenteils von Gerüchten, Spekulationen, Ansehen abhängt und dass ohne Kommunikation (Zeichen) keine Akkumulation (von Kapital) stattfindet.
Insofern ist es wenig verwunderlich, dass ein einzelner gereckter Mittelfinger zu einem derart wichtigen Zeichen wurde, dass der deutsche Finanzminister Schäuble folgerte, die Griechen hätten „alles Vertrauen zerstört“.
Während des „Subversive Festivals“, für das ich Varoufakis 2013 als einen von vielen Gästen persönlich eingeladen hatte, war dieser noch nicht Finanzminister. Er kam als Autor von „Der globale Minotaurus“, einer präzisen Analyse der gegenwärtigen Finanzkrise. Er war einer von hundert Gästen, darunter Oliver Stone, Aleida Guevara, Tariq Ali und Slavoj iek. Das Überthema des Festivals war in diesem Jahr „Die Zukunft Europas“. Es ging darum zu zeigen, dass die Sparmaßnahmen und die aktuelle Ausrichtung der EU für uns alle keine gute Zukunft bringen können, und darum, dass wir untereinander Solidarität brauchen – auch zwischen Deutschen und Griechen. Auf dem Festival wurde in keiner Weise Hass zwischen den unterschiedlichen Nationen gefördert, im Gegenteil, es ging darum, unsere gegenwärtige tragische Situation zu befragen und eine mögliche gemeinsame Zukunft zu imaginieren.
Wenn Varoufakis aber damals noch nicht Finanzminister war, warum hat der deutsche Sender dann seinen Finger bewusst aus dem Zusammenhang gerissen und die Szene als eine Geste des aktuellen Finanzministers dargestellt?
Wie mittlerweile jeder weiß, der das Originalvideo gesehen hat, sprach Varoufakis damals über eine hypothetische Situation: Er berief sich auf einen Zeitpunkt im Januar 2010, als Griechenland in seinen Augen den Staatsbankrott erklären hätte sollen – ohne die Euro-Zone zu verlassen. Die Worte „Deutschland den Finger zu zeigen“ richteten sich hier ganz eindeutig nicht gegen einen Staat oder gegen ein Volk, sondern gegen eine deutsche Regierung, die zu dieser Zeit die hauptsächliche Vertreterin der desaströsen EU-Sparpolitik war und dies auch heute noch ist.
Also noch mal: Warum und wie wurde ein Mittelfinger zu einem Symbol historischen Ausmaßes? Es liegt an jenem „Semio-Kapitalismus“, der es so einfach macht, von wichtigen Fragen abzulenken, ja diese sogar auszulöschen. Es ist kinderleicht, Varoufakis’ Glamour-Bilder in Paris Match zu kritisieren oder seinen Mittelfinger, aber es ist unmöglich, eine ernsthafte Diskussion über Griechenlands Forderungen nach deutschen Kriegsreparationen zu führen. Es ist einfach, über Tsipras’ Kleidungsstil zu reden, aber es ist immer noch nicht möglich, ernsthaft über die größte Schuldentilgung des 20. Jahrhunderts zu diskutieren, bei der den Deutschen im Zuge des Londoner Abkommens 62 Prozent ihrer Schulden erlassen wurden.
Der Ökonom John Maynard Keynes sagte, wenn du Schulden in Höhe von tausend Pfund bei der Bank hast, die du nicht zurückzahlen kannst, dann hast du ein Problem. Wenn du aber zehn Millionen Pfund nicht zurückzahlen kannst, dann hat auch deine Bank ein Problem. Das ist die beste Beschreibung der aktuellen Systemblockade in Europa. Im Zusammenhang mit dem Finger-Skandal muss gesagt werden, dass Griechenland nicht tatsächlich Deutschland oder den Deutschen Geld schuldet, sondern privaten Banken und dem Finanzsektor, und dass eine kleine Minderheit versucht, Finger, Krawatten und Jacken dazu zu benutzen, die Aufmerksamkeit von dieser einfachen Tatsache abzulenken.
Wenn man aus dem Finger-Skandal eine Lektion lernen kann, dann die folgende: Zeichen sind Waffen; jeder Kampf ist auch ein semantischer, das heißt ein Kampf um die Deutungshoheit von Zeichen. Hier gilt die Antwort, die Humpty Dumpty auf Alices Frage „Wie kannst du einem Wort so viele verschiedene Bedeutungen geben?“ lieferte: „Die Frage ist, wer die Macht hat, das ist alles.“
Der Finanzkapitalismus funktioniert dadurch, dass er die Macht über die Bedeutung hat; er kann durch Spekulationen Ansehen und sogar durch Gerüchte Wert schaffen. Bezogen auf die Krise Europas: Die Frage ist, wer das Sagen hat, das ist alles. Er entscheidet dann auch darüber, was Varoufakis’ Finger wirklich bedeutet. Die Berichterstattung der letzten Tage hat gezeigt: Sobald der Finger da war, war es unwichtig, dass das Ganze 2013 passiert war, und zwar in einem ganz anderen Zusammenhang. Die jüngste Wendung im Stinkefinger-Skandal, bei der Jan Böhmermann beansprucht, den Finger nachträglich in die Videoaufnahme hineinmontiert zu haben, ist nur ein weiterer Beweis dafür, dass wir wirklich eine gefährliche Zeit erreicht haben. Eine Zeit, in der es nicht mal mehr wichtig ist, ob ein Finger gefälscht ist oder real.
Eines allerdings ist klar: Nicht nur Deutschland, sondern ganz Europa wurde der Mittelfinger gezeigt, wenn wir es nicht mehr schaffen, eine ernsthafte und erwachsene Debatte über die europäische Krise zu führen. Dieser Mittelfinger ist das wahre Symbol für die Krise Europas.
Der Autor ist Philosoph und Direktor des „Subversive Festival“ in Zagreb.