Die Nobelpreisrede des chinesischen Schriftstellers Mo Yan: Die Selbstauskunft eines Dichters, der weiß, in welcher auch politischen Lage er sich befindet
Chinesische Nobelpreisträger haben es schwer. Sie sehen sich in jedem Fall mit dem Vorwurf des Verrats konfrontiert. Entweder sie sind Gegner der herrschenden Ordnung, dann werden sie daheim geschmäht und drangsaliert, denn mit solchen Gegnern geht man in China nicht glimpflich um; oder aber sie haben sich irgendwie mit der Macht arrangiert, und dann müssen sie sich die Missbilligung des Auslandes und der einheimischen Regimekritiker anhören. Mo Yan, der diesjährige Literatur-Nobelpreisträger, gehört zur zweiten Sorte. Man durfte also gespannt sein, welchen Gebrauch der Geehrte von der 'Nobel Lecture' machen würde, die immer zwei, drei Tage vor der offiziellen Preisverleihung im Stockholmer Börsensaal stattfindet. Würde er sich verteidigen? Oder gar den Staat, dessen Bürger er ist? Würde er in die Offensive gehen, oder sich entschuldigen, oder die Lage zu ignorieren suchen?
Jedenfalls war er gut beraten, die Sache sehr persönlich anzugehen und, wie es schon viele Preisträger vor ihm getan hatten, die Geschichte seines Werks als die Geschichte seines Lebens zu erzählen. Bei Mo Yan klangen dabei archaische Töne an. Man glaubte, noch einmal die alte Erzählung von Ödipus oder Moses zu vernehmen, vom jenem besonderen Kind also, dem als notwendige Vorstufe die Verstoßung bestimmt ist, ehe es triumphal in sein wahres Schicksal eintritt. Was ihm widerfährt, geht über die universale Armut des ländlichen China vor einem halben Jahrhundert noch hinaus. Er wird verspottet, weil er hässlich sei. Er muss, während seine Altersgenossen weiterhin die Grundschule besuchen dürfen, als Schaf- und Rinderhirte seine Herde an den Augen der glücklicheren Gefährten auf dem Schulhof vorbeitreiben und seine Tage in völliger Verlassenheit vor dem Dorf verbringen.
Zur Literatur gelangt dieses junge Ich, indem es trödelnd auf dem Wochenmarkt der Stimme eines professionellen Geschichtenerzählers verfällt. Natürlich wird er für seine Saumseligkeit getadelt; aber dann erzählt er, was er gehört hat, mit eigenen Worten wieder, die Verwandten lauschen gebannt, und bald macht es ihm Spaß, die Geschichten heimlich ein bisschen abzuändern. Mo Yan beruft sich, was
Einflüsse angeht, auf Márquez und Faulkner; doch das Muster, dem er in Wahrheit folgt, schreibt sich, offenbar ohne dass er es weiß, von Oliver Twist und Charles Dickens her. Es funktioniert, bei aller mitschwingenden Sentimentalität, deswegen immer noch, weil China heute an einem ähnlichen Punkt stehen dürfte wie das frühindustrielle England.
Über Dickens waren die Meinungen immer geteilt. Karl Marx rechtfertigte ihn mit der Begründung, es genüge für einen Schriftsteller, das schonungslose Bild einer Epoche zu entwerfen; das daraus zu folgernde politische Engagement dürften dann gern andere übernehmen. Mo Yan selbst charakterisiert sein Vorgehen so: 'Ein Schriftsteller ist Teil der Gesellschaft, selbstverständlich hat er seinen eigenen Standpunkt und seine eigne Meinung, doch ein Erzähler muss beim Schreiben den Standpunkt der Allgemeinheit einnehmen und lässt damit alle Menschen an seinem Werk mitschreiben. Einzig auf diese Weise kann sich Literatur einem Thema widmen, aber gleichzeitig darüber hinausgelangen, kann politisch sein, dabei aber über die Politik hinausgehen.'
Dass Literatur die Politik transzendiert oder sich jedenfalls in kategorial anderem Terrain bewegt, würde einem europäischen Schriftsteller heute, da die großen linken Kontroversen den Erschöpfungstod gestorben sind, wohl zugestanden. Für China jedoch soll dies nicht so ohne weiteres gelten. Denn dort ist die Öffentlichkeit eine gelenkte, der Schriftsteller eine gefährliche Figur, die Kontrolle scharf und die daraus entspringende ethische Pflicht eine direkte - so etwa lautete der Tenor der Kritik, als Mo Yan seinen Preis erhielt. Denkt man darüber nach, so steckt in dieser Haltung mehr als eine nur eine vorsichtige Dosis Arroganz: In China soll der Autor ganz selbstverständlich eine Aufgabe erfüllen, von der wir uns im Westen entbinden durften, weil die Dinge bei uns bekanntlich so viel besser liegen.
Das Recht zur indirekten Reaktion behält sich Mo Yan, wie gegenüber der Politik seines Heimatlandes, so auch gegenüber seinen westlichen Widersachern vor. Der Künstlername, den er sich zugelegt hat (eine Entscheidung, die er aus seinen Erfahrungen mit der Kulturrevolution begründet), wird mit 'Nicht reden' oder 'Schweig still' übersetzt. Er diskutiert nicht, sondern begnügt sich mit der Erklärung: 'Ich hoffe, dass Sie meine Bücher mit Geduld und Nachsicht lesen, auch wenn ich Sie natürlich dazu nicht zwingen kann. Selbst wenn Sie meine Bücher gelesen haben, erwarte ich nicht, dass Sie mich mit ganz anderen Augen betrachten. Kein Schriftsteller der Welt wird von allen Leuten gemocht. Das gilt in der heutigen Zeit noch viel mehr als früher. Man kann es ihm schwerlich verdenken, wenn er meint, die Sache beträfe ihn zuletzt gar nicht, sondern es handle sich um ein großes Theater, bei dem er zufällig in die Hauptrolle gerutscht sei, und die Steine und Blumengirlanden, die jetzt in bunter Mischung auf die Bühne fliegen, meinten nicht ihn, sondern etwas ganz Anderes.'
Chinesische Nobelpreisträger haben es schwer. Sie sehen sich in jedem Fall mit dem Vorwurf des Verrats konfrontiert. Entweder sie sind Gegner der herrschenden Ordnung, dann werden sie daheim geschmäht und drangsaliert, denn mit solchen Gegnern geht man in China nicht glimpflich um; oder aber sie haben sich irgendwie mit der Macht arrangiert, und dann müssen sie sich die Missbilligung des Auslandes und der einheimischen Regimekritiker anhören. Mo Yan, der diesjährige Literatur-Nobelpreisträger, gehört zur zweiten Sorte. Man durfte also gespannt sein, welchen Gebrauch der Geehrte von der 'Nobel Lecture' machen würde, die immer zwei, drei Tage vor der offiziellen Preisverleihung im Stockholmer Börsensaal stattfindet. Würde er sich verteidigen? Oder gar den Staat, dessen Bürger er ist? Würde er in die Offensive gehen, oder sich entschuldigen, oder die Lage zu ignorieren suchen?
Jedenfalls war er gut beraten, die Sache sehr persönlich anzugehen und, wie es schon viele Preisträger vor ihm getan hatten, die Geschichte seines Werks als die Geschichte seines Lebens zu erzählen. Bei Mo Yan klangen dabei archaische Töne an. Man glaubte, noch einmal die alte Erzählung von Ödipus oder Moses zu vernehmen, vom jenem besonderen Kind also, dem als notwendige Vorstufe die Verstoßung bestimmt ist, ehe es triumphal in sein wahres Schicksal eintritt. Was ihm widerfährt, geht über die universale Armut des ländlichen China vor einem halben Jahrhundert noch hinaus. Er wird verspottet, weil er hässlich sei. Er muss, während seine Altersgenossen weiterhin die Grundschule besuchen dürfen, als Schaf- und Rinderhirte seine Herde an den Augen der glücklicheren Gefährten auf dem Schulhof vorbeitreiben und seine Tage in völliger Verlassenheit vor dem Dorf verbringen.
Zur Literatur gelangt dieses junge Ich, indem es trödelnd auf dem Wochenmarkt der Stimme eines professionellen Geschichtenerzählers verfällt. Natürlich wird er für seine Saumseligkeit getadelt; aber dann erzählt er, was er gehört hat, mit eigenen Worten wieder, die Verwandten lauschen gebannt, und bald macht es ihm Spaß, die Geschichten heimlich ein bisschen abzuändern. Mo Yan beruft sich, was
Einflüsse angeht, auf Márquez und Faulkner; doch das Muster, dem er in Wahrheit folgt, schreibt sich, offenbar ohne dass er es weiß, von Oliver Twist und Charles Dickens her. Es funktioniert, bei aller mitschwingenden Sentimentalität, deswegen immer noch, weil China heute an einem ähnlichen Punkt stehen dürfte wie das frühindustrielle England.
Über Dickens waren die Meinungen immer geteilt. Karl Marx rechtfertigte ihn mit der Begründung, es genüge für einen Schriftsteller, das schonungslose Bild einer Epoche zu entwerfen; das daraus zu folgernde politische Engagement dürften dann gern andere übernehmen. Mo Yan selbst charakterisiert sein Vorgehen so: 'Ein Schriftsteller ist Teil der Gesellschaft, selbstverständlich hat er seinen eigenen Standpunkt und seine eigne Meinung, doch ein Erzähler muss beim Schreiben den Standpunkt der Allgemeinheit einnehmen und lässt damit alle Menschen an seinem Werk mitschreiben. Einzig auf diese Weise kann sich Literatur einem Thema widmen, aber gleichzeitig darüber hinausgelangen, kann politisch sein, dabei aber über die Politik hinausgehen.'
Dass Literatur die Politik transzendiert oder sich jedenfalls in kategorial anderem Terrain bewegt, würde einem europäischen Schriftsteller heute, da die großen linken Kontroversen den Erschöpfungstod gestorben sind, wohl zugestanden. Für China jedoch soll dies nicht so ohne weiteres gelten. Denn dort ist die Öffentlichkeit eine gelenkte, der Schriftsteller eine gefährliche Figur, die Kontrolle scharf und die daraus entspringende ethische Pflicht eine direkte - so etwa lautete der Tenor der Kritik, als Mo Yan seinen Preis erhielt. Denkt man darüber nach, so steckt in dieser Haltung mehr als eine nur eine vorsichtige Dosis Arroganz: In China soll der Autor ganz selbstverständlich eine Aufgabe erfüllen, von der wir uns im Westen entbinden durften, weil die Dinge bei uns bekanntlich so viel besser liegen.
Das Recht zur indirekten Reaktion behält sich Mo Yan, wie gegenüber der Politik seines Heimatlandes, so auch gegenüber seinen westlichen Widersachern vor. Der Künstlername, den er sich zugelegt hat (eine Entscheidung, die er aus seinen Erfahrungen mit der Kulturrevolution begründet), wird mit 'Nicht reden' oder 'Schweig still' übersetzt. Er diskutiert nicht, sondern begnügt sich mit der Erklärung: 'Ich hoffe, dass Sie meine Bücher mit Geduld und Nachsicht lesen, auch wenn ich Sie natürlich dazu nicht zwingen kann. Selbst wenn Sie meine Bücher gelesen haben, erwarte ich nicht, dass Sie mich mit ganz anderen Augen betrachten. Kein Schriftsteller der Welt wird von allen Leuten gemocht. Das gilt in der heutigen Zeit noch viel mehr als früher. Man kann es ihm schwerlich verdenken, wenn er meint, die Sache beträfe ihn zuletzt gar nicht, sondern es handle sich um ein großes Theater, bei dem er zufällig in die Hauptrolle gerutscht sei, und die Steine und Blumengirlanden, die jetzt in bunter Mischung auf die Bühne fliegen, meinten nicht ihn, sondern etwas ganz Anderes.'