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Näher beim Tiger

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Wim Wenders dreht nach 'Pina' die Fernsehdokumentation 'Kathedralen der Kultur' in 3-D. In Berlin verlangt er nun gemeinsam mit Ang Lee, was die neue Technik in Wahrheit braucht: revolutionäre Drehbücher.

Wurfgeschosse und Stichwaffen wurden in den Sechzigerjahren auf einmal als Kino-Accessoires ungeheuer populär - sie flogen mit der damals neuen 3-D-Technik so schön auf die Zuschauer zu. Und der Einsatz der dritten Dimension wurde lange nicht viel inspirierter. Die Technik galt zunächst vor allem als Wunderwaffe im Kampf gegen sinkende Zuschauerzahlen, als Köder, mit dem sich die Zuschauer aus ihren immer höher gerüsteten Heimkinos herauslocken lassen.



Regisseur Wim Wenders mit Frau Donota bei den 25th European Film Awards

Jetzt beginnen langsam ein paar Filmregisseure, sich wirklich mit dem Wesen des neuen, dreidimensionalen Sehens auseinanderzusetzen und damit, was das für das Erzählen im Kino bedeuten kann. Dazu gehören neben dem 3-D-Könner James Cameron (Avatar) und Martin Scorsese (Hugo Cabret) auch Wim Wenders und Ang Lee, die sich vor einigen Tagen in der Berliner Akademie der Künste zu einem Podiumsgespräch über die Möglichkeiten des 3-D trafen. Beide Regisseure sehen die neue Technik gerade nicht als Vehikel für die Phantasiewelten des Animationskinos, sondern als Möglichkeit für intime Perspektiven auf den Alltag. Die Verfilmung von Yann Martels Schiffbruchgeschichte The Life of Pi, die von den existenziellen und spirituellen Abenteuern eines Teenagers erzählt, der wochenlang zusammen mit einem bengalischen Tiger in einem kleinen Rettungsboot verbringt, wäre für Ang Lee ohne die Unmittelbarkeit des 3-D völlig undenkbar gewesen, wie er erklärte.

Auch für Wenders wurde der lang gehegte Traum eines Filmes über die Arbeit der Tänzerin und Choreografin Pina Bausch erst mit der 3-D-Technik realisierbar, wobei der Tanz durch seine Beziehung zum Raum von vornherein eine besondere Affinität zur Dreidimensionalität hat.

Das gilt auch für die Architektur, die Wenders jetzt in einem neuen 3-D-Projekt thematisiert: In einer sechsteilig konzipierten Fernsehserie über Kathedralen der Kultur, die als Koproduktion mit dem RBB und Arte fürs Fernsehen produziert wird und Ende nächsten Jahres in 2-D und 3-D ausgestrahlt werden soll. Das Konzept: Sechs verschiedene Filmautoren, die in der Regel Erfahrungen im Bereich des Dokumentar- und des Spielfilms haben, porträtieren jeweils ein außergewöhnliches Gebäude. Wenders hat im November bereits in der Berliner Philharmonie gedreht, weitere Projekte folgen im kommenden Jahr. Dabei sollen die Gebäude als Hauptattraktion sozusagen für sich selbst sprechen, als Ort im kollektiven Gedächtnis, der mit dem Architekten, dem Bau und den Nutzern zu tun hat.

Tatsächlich geht es derzeit um nichts weniger als eine neue Definition des filmischen Raums: 'Es gibt noch keine allgemeingültige Ansicht, was dieses 3-D wirklich ist', sagte Wim Wenders. 'Für viele ist es eine Attraktion, für die Studios ist es eine Möglichkeit, Geld zu verdienen, aber als Medium ist es noch nicht wirklich akzeptiert, das Verhältnis zwischen Film und Zuschauer noch nicht etabliert.' In der Geschichte der Menschheit, seit den Höhlenmalereien, habe es immer eine Übereinkunft über das Verhältnis der Dinge zu ihrer Repräsentation im Bild gegeben. Durch 3-D werde diese Beziehung, die Tausende Jahre bestand, völlig verändert, stellt Wenders fest: 'Der Tiger in Ang Lees Film ist sehr viel näher an der Wirklichkeit, als wir es von den Bildern kennen. Die Art, wie diese Barriere durchstoßen wird, ist die wahre Revolution!'

Paradoxerweise erweist sich der neuartige Realismus nach Ansicht von Ang Lee aber auch als sehr viel trügerischer und schwerer fassbar - ganz einfach weil die Leinwand keine klar definierte Fläche darstellt, sondern sich in alle Richtungen grenzenlos ausdehnt. So müssen die Pioniere des dreidimensionalen Erzählens die Filmsprache ganz neu lernen, den Umgang mit verschiedenen Linsen, Brennweiten und Bildformaten, ja sogar mit den Schauspielern: 'Da 3-D in jeder Beziehung sehr viel voluminöser wirkt, muss man die Performance der Schauspieler entsprechend anpassen', stellte Ang Lee fest, 'das sieht sehr viel schneller nach Overacting aus.' Wenders empfindet eine erhöhte Präsenz: 'Ich hatte nicht das Gefühl, mit The Life of Pi einen 3-D-Film zu sehen. Ich war tatsächlich da draußen auf dem Meer, im Angesicht eines Tigers. Für mich war es ein großes Glück zu sehen, dass da endlich jemand vormacht, wie man Geschichten in 3-D erzählen kann! Wir müssen anfangen, Drehbücher für 3-D zu schreiben.'

Das Fernsehprojekt für den RBB und Arte steht in gewisser Weise für das, was Wenders zunächst in 3-D sah: eine Möglichkeit, die Zuschauer von Dokumentarfilmen wirklich an den Ort des Geschehens zu transportieren. Aus Wenders" Flirt mit der neuen Technik ist dann eine veritable Liebesgeschichte geworden: Derzeit bereitet er seinen ersten Spielfilm in 3-D vor, eine kleine intime Familiengeschichte, die er wahrscheinlich mit dem Kameramann Anthony Dod Mantle drehen wird, der gerade in der Comic-Verfilmung Dredd neue 3-D-Perspektiven eröffnet hat.

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