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Warten auf den irakischen Frühling

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Die Regierung Maliki gerät in Bedrängnis: Die Sunniten begehren auf, eine Nachfolge für den schwer kranken kurdischen Staatschef ist nicht in Sicht.

Paris - Der Irak beginnt das Jahr mit großen inneren Konflikten. Der schiitische Premierminister Nuri al-Maliki steht seit Tagen massiven Protesten der sunnitischen Minderheit gegenüber, deren Forderungen nun auch der radikale Schiiten-Führer Moktada al-Sadr unterstützt. Durch die fortdauernde Erkrankung des 79-jährigen kurdischen Präsidenten Dschalal Talabani, der im Dezember in Berlin wegen eines Schlaganfalls behandelt wurde, stellt sich bereits die Frage nach der Nachfolge. Es ist ungewiss, ob die Sunniten abermals einen Kurden als Staatschef akzeptieren würden. Die alltägliche Gewalt durch Anschläge, der im vergangenen Jahr 4471 irakische Zivilisten zum Opfer fielen, erreichte in den letzten Tagen des alten Jahres blutige Höhepunkte.



Sunnitische Massenproteste in der Stadt Ramadi

Die Sunniten, die bis zum Sturz des Diktators Saddam Hussein die schiitische Mehrheit beherrscht hatten, demonstrieren in der westlichen Provinz Anbar, um ihren Klagen über Benachteiligungen Nachdruck zu verleihen. Zehntausende Unzufriedene sperren eine der wichtigsten Straßen nach Syrien und Jordanien. Die Proteste wurden ausgelöst, als Maliki am 23.Dezember das Büro des sunnitischen Justizministers Rafia al-Issawi durchsuchen und dessen Leibwächter unter der Beschuldigung des Terrorismus verhaften ließ. Bereits im September war der prominenteste Sunnit des Regimes, Vizepräsident Tarik al-Haschimi , unter der Anklage des Terrorismus in Abwesenheit zum Tod verurteilt worden. Er konnte sich ins autonome Kurdistan und später ins Ausland retten.

Maliki drohte den Demonstranten am Dienstag im Fernsehen mit Gewalt, wenn sie ihre Proteste nicht abbrächen. 'Wir hatten große Geduld mit euch', sagte er, aber sie sei nicht unendlich. Die Straßensperre bezeichnete er als 'vom Ausland inspiriert' und als verfassungswidrig. 'Glaubt nicht, dass es der Regierung schwer fallen würde, das Nötige zu tun, um die Straße zu öffnen.' Der von Sunniten dominierte Irakijah-Block wiederum droht damit, aus der Regierung auszutreten und gegen Maliki im Parlament einen Misstrauensantrag einzubringen. Issawi, der von der jüngsten Repression betroffene Justizminister, bezeichnet Malikis Vorgehen im Hinblick auf die im Frühling fälligen Provinzwahlen 'als verfrühten Wahlkampf-Trick'.

In einer überraschenden Erklärung gab der bei der armen schiitischen Stadtbevölkerung beliebte Moktada al-Sadr dem Regierungschef alle Schuld an den Unruhen. 'Der irakische Frühling wird kommen', sagte Sadr in der heiligen Stadt Nadschaf. 'Wir sind auf Seiten der Demonstranten, und auch das Parlament muss für sie sein.' Um die Lage zu entschärfen, hat Maliki inzwischen in Gesprächen mit sunnitischen Klerikern eine Sonder-Amnestie für inhaftierte Frauen versprochen. Sie soll für etwa 700 der 920 weiblichen Häftlinge in irakischen Gefängnissen gelten.

Im umstrittenen Gebiet von Kirkuk stehen sich kurdische Peschmerga-Milizen und die Tigris-Sondertruppen der Zentralregierung gegenüber. Wegen Talabanis Krankheit sind die Gespräche über eine Lösung des Territorialstreits zwischen Bagdad und der autonomen kurdischen Verwaltung eingeschlafen. Es geht in ihnen um die Zukunft der erdölreichen Region. In Erbil sagte der Chef der Regionalregierung, Massud Barsani, er habe keine große Hoffnung auf eine Schlichtung. Im Augenblick gebe es keine Kontakte. Aus dem Umland von Kirkuk, das von Kurden, Arabern und Turkmenen bewohnt wird, würden sich die Peschmerga nur zurückziehen, wenn Malikis Tigris-Truppen ebenfalls gingen. Die Zeitung Schark al-Aussat zitiert einen kurdischen Sprecher, es gebe keine Aussicht auf eine Verständigung mit Maliki. Dieser verdächtigt die Türkei, sie bediene sich der Kurden, um den Irak zu spalten.

In kurdisch-irakischen Kreisen scheint man es nicht mehr für wahrscheinlich zu halten, dass Talabani in sein Amt zurückkehrt. Angesichts seines überragenden politischen Gewichts wäre jede Nachfolgeregelung zwischen der Patriotischen Union Kurdistans (PUK) Talabanis und Barsanis Demokratischer Partei Kurdistans (KDP) schwierig. Die Haltung Bagdads ist unklar. Die Sunniten dürften gegen einen weiteren kurdischen Präsidenten nach Talabani sein. Sie wandten sich schon vehement dagegen, dass der Kurde Hoschiar Sebari irakischer Außenminister wurde.

In einem Gespräch mit der kurdischen Zeitung Rudaw empfahl der frühere amerikanische Botschafter Peter Galbraith den irakischen Kurden, die er während der Besatzungszeit beraten hatte, sie sollten in Kirkuk auf einen Kompromiss eingehen. Die volle Unabhängigkeit sei für sie in zehn Jahren erreichbar. Ein kleineres, unabhängiges Kurdistan sei für sie besser als die ewige Einbindung in den Irak. Die USA wiederum sollten erkennen, dass Kurdistan ihr bester Verbündeter im Nahen Osten werden könne.

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