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Rundungen und Sensationen

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Muss die Geschichte unserer Schrift neu geschrieben werden? Die Universität Heidelberg verkündet eine Sensation, die keine ist.

Eine Pressemeldung verkündete dieser Tage: 'Heidelberger Wissenschaftler entdeckt frühesten Beleg der heute gebräuchlichen Schrift.' Die PR-Abteilungen der Universitäten versuchen in der Ära der Exzellenzwettbewerbe ohne Unterlass, Nachrichten zu ihren Gunsten zu produzieren - aber diese Meldung klingt ja erst mal nicht uninteressant. Was hat es damit auf sich?



Ein Philologe der Universität Heidelberg gibt an, auf ein sensationelles Schriftstück gestoßen zu sein.

Die Schrift, die wir heute weltweit in Büchern und Computern benutzen, geht auf die Zeit von Karl dem Großen zurück. Einige Jahrhunderte später nahmen die Humanisten der Renaissance Maß an dieser mittelalterlichen Schrift. Sie verwendeten sie in angepasster Form in ihren Handschriften und für den Buchdruck, der gerade seinen Siegeszug antrat.

Weil die Renaissance die Vorbildschrift in den alten Manuskripten für antik hielt, heißt die Grundform unserer lateinischen Schrift bis heute 'Antiqua'. Die Bezeichnung war insofern nicht ganz falsch, als natürlich auch die mittelalterlichen Schriften ihrerseits auf die antike römische Schrift zurückgingen; nicht bloß die Großbuchstaben, auch viele Formen der Kleinbuchstaben stammten, über verschiedene Stufen der Entwicklung, aus dem Altertum. Ganz falsch hingegen war die Annahme eines 'antiken' Ursprungs für das konkrete Vorbild, eine schöne, ebenmäßige Schrift, die man in der frühen Neuzeit in den älteren Handschriften wiederentdeckte: Denn jene vereinheitlichte Schrift, die 'ein idealer Ausgleich von Rundungen und Geraden' auszeichnet (so der Schriftforscher Herbert Hunger), war tatsächlich erst kurz vor dem Jahr 800n. Chr. in mittelalterlichen Klöstern erfunden worden. Nach der politischen und kulturellen Erneuerung durch den Frankenherrscher Karl den Großen (742 bis 814) nennt man diese Schrift heute 'karolingische Minuskel'.

Nun ist der Philologe Tino Licht vom Mittellateinischen Seminar der Heidelberger Universität laut besagter Pressemitteilung 'auf den bislang frühesten Beleg' der karolingischen Minuskel 'gestoßen'. In einem Aufsatz im Mittellateinischen Jahrbuch ('Die älteste karolingische Minuskel', Band 47/2012, 3. Heft, Anton Hiersemann Verlag) verweist der Forscher auf eine in der Berliner Staatsbibliothek verwahrte Handschrift, die im Skriptorium des Klosters Corbie im heutigen Nordfrankreich entstanden ist und sich auf die Jahre 762bis 769 n.Chr. datieren lässt. Während dieses Manuskript sonst noch die ältere Schriftform der Halbunziale aufweist, sind drei Seiten nach der Aufschlagseite bereits in den 'moderneren' karolingischen Minuskel geschrieben, worauf es wieder in der älteren Halbunziale weitergeht. Die Mönche von Corbie haben folglich damals mit der neuen Schrift experimentiert. Laut dem Aufsatz von Tino Licht ist damit das früheste Vorkommen der karolingischen Minuskel gefunden und damit auch die Ansicht erschüttert, die Schrift - die Ahnherrin unserer heutigen Druckschrift - sei später am Hof Karls des Großen entstanden, womöglich auf dessen Befehl hin.

Das Problem des Aufsatzes von Tino Licht ist nicht, dass der Mittellateiner mit seinem Befund nicht recht hätte. Das Problem ist vielmehr, dass die von der Universität Heidelberg verkündete Sensation leider keine ist. Denn erstens hat die Forschung schon seit einiger Zeit angenommen, dass die karolingische Minuskel dezentral in den Schreibstuben der Klöster entstanden ist, namentlich in der Abtei Corbie, und sich dann erst Schritt für Schritt überall verbreitete, woran allerdings der Hof Karls des Großen seinen Anteil hatte, der über den Abt Adalhard enge familiäre Verbindungen nach Corbie hatte und Prachthandschriften mit der Schrift anfertigen ließ. Und zweitens ist auch die herangezogene Berliner Handschrift der Forschung bereits bekannt gewesen. Das gilt sowohl für ihre Datierung als auch für jene drei Seiten mit der frühen karolingischen Minuskel, die schon in dem Standardwerk 'Codices Latini Antiquiores' von E.A.Lowe und Bernhard Bischoff verzeichnet war (Band VIII, Oxford 1959).

Und so gibt auch der bekannte Frankfurter Mediävist Johannes Fried gegenüber der SZ die Einschätzung ab, bei dem Anspruch des Aufsatzes von Tino Licht, eine grundstürzende Neuigkeit entdeckt zu haben, handele es sich, so Fried, um 'eine Wassersuppe'. Die Schriftgeschichte müsse jetzt mitnichten neu geschrieben werden, sagt Johannes Fried, der gerade das Manuskript einer neuen Biografie Karls des Großen zum Abschluss bringt. Das heißt: Der Mitarbeiter des Heidelberger Mittellateinischen Seminars, der den Aufsatz verfasst hat, mag sonst ein tüchtiger Forscher sein. Aber es bestätigt sich der Verdacht, dass gegenüber den PR-Mitteilungen auch altehrwürdiger deutscher Universitäten inzwischen äußerste Vorsicht angebracht ist.

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