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'Wir töten uns sogar selber'

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Big Data ist unausweichlich: Der Fotograph und Autor Rick Smolan über die Lawinen der Information.

Rick Smolan ist Fotograf und arbeitete für die amerikanischen Magazine Time, Life und National Geographic. Er hat die in den USA sehr erfolgreichen Bücher der 'Day in the Life', 'America at Home' und '24 Hours in Cyberspace' konzipiert, Fotografen aus aller Welt dafür gewonnen und die Bücher auch herausgegeben. Sein neuestes Buch, ein opulent bebilderter Band, heißt 'The Human Face of Big Data' und stellt den Versuch dar, dieses 'Next-Big-Thing-Buzz-Word' zu veranschaulichen. Was also ist 'Big Data'?



Rick Smolan erklärt, was das ist: "Big Data".

SZ: Mr. Smolan, kennen Sie eigentlich die Buzzcocks?
Rick Smolan: Sie meinen diese schon etwas ältere englische Punkband?

Genau die. Von denen stammt ein Song: 'Why Can"t I Touch It?', in dem es heißt: 'Well it seems so real I can see it / And it seems so real I can feel it / And it seems so real I can taste it / And it seems so real I can hear it - / So why can"t I touch it?' So geht es mir mit Big Data. Man kann es fast sehen, fühlen, schmecken, hören. Aber ich kann es nicht anfassen. Es ist so unwirklich. Was, bitte, ist 'Big Data'?
Das verstehe ich. Big Data zu erklären, ist, wie Fischen das Wasser zu beschreiben. Daten entstehen ja überall. Wir sind Daten, überall gibt es diese Sensoren und Netze, in denen Daten zirkulieren. Es existieren heute schon Milliarden von vernetzten Sensoren auf diesem Planeten. Und bald schon wird wirklich jedes Objekt, lebend oder nicht, jedes Gerät, jeder Mensch Daten produzieren und einspeisen. Daten sind das Nervensystem der Welt. Und wir werden sie messen, analysieren, filtern, zusammenführen können. Die Daten werden zu uns (auch im Wortsinn) sprechen, Software wird eigenständig lernen, Maschinen auch. Und wir werden mehr wissen.

Furchtbar.
Bitte? Big Data ist nicht Big Brother. Aber so wird die Geschichte immer erzählt: Big Data ist Überwachung, und wir müssen sehr ängstlich sein darüber. Wir reden hier aber von Big-Data-Humanismus. Das ist ganz und gar nicht furchtbar. Es ist, als ob sie mit einem dritten Auge in eine neue Dimension schauen.

Ganz furchtbar.
Warum?

Weil das, was Sie beschreiben, nach der Über-Wolke klingt. Und doof, wie wir Menschen nun einmal sind, machen wir uns auch noch freiwillig zu Geiseln dieser neuen globalen Infrastruktur, ja, wir begreifen uns selber nur noch als 'Data', wertvoll als Daten-Produzenten und das, was sich messen und daraus angeblich ermessen lässt. Sind wir denn nicht immer noch viel mehr?
Sie spielen an auf die 'Technologische Singularität', dieses Konzept, das etwa Ray Kurzweil nach der Jahrtausendwende vertreten hat und vor ihm schon andere, nach dem der 'technische Wandel so schnell und allumfassend ist, dass er einen Bruch in der Struktur der Geschichte der Menschheit darstellt'. Der Mensch ist ab dann überflüssig, fürchtet man. Er wird historisch abgelöst werden von einer größeren - aber künstlichen - Intelligenz.

Genau: Wir werden also erleben, dass der Planet uns für den Fortschritt nicht mehr braucht. Wir können dann abtreten. Nehmen Sie mir also die Angst vor Big Data, bitte!
So etwas muss man pragmatisch angehen: In naher Zukunft werden alle unsere Wohnungen, unsere Autos, auch unsere Körper beständig Daten produzieren und publizieren. Das ist unausweichlich. Schon jetzt haben wir den 'tipping point' in der Geschichte erreicht: Heute schon werden mehr Daten von Maschinen - Servern, Handys, GPS in Autos - produziert als von Menschen. Natürlich scheint das überwältigend zu sein. Innerhalb eines Tages produzieren wir und unsere Geräte und Sensoren 70 mal so viele Informationen wie die Library of Congress beinhaltet. Ja, auch unsere Smartphones machen uns heute zu Umweltsensoren: Wir produzieren ständig Verweise darauf, wo wir sind, was uns gerade interessiert, wonach wir suchen, mit wem wir Kontakt haben.

Das sind Datenberge, die nur eine Richtung kennen: Sie wachsen. Und sie werden nie wieder verschwinden. Von Anbeginn der Zivilisation an bis zum Jahr 2003 hat die Menschheit insgesamt fünf Exabyte an Daten produziert. Heute produzieren wir fünf Exabytes - alle zwei Tage. Doch ist es erst einmal falsch, sich vor den schieren Mengen zu fürchten. Viel wichtiger ist es, immer zu wissen, wem die Daten gehören, wer mit ihnen arbeitet, wer davon profitiert. Noch kann niemand sagen, wohin sich das Internet und damit die darin enthaltenen Daten entwickeln werden. Wir haben ja erst seit kaum 20 Jahren umfangreichere Erfahrung mit dem Netz. Aber ein positives Beispiel: Japan hat im Jahr 2005 eine halbe Milliarde Dollar in ein Tsunami-Frühwarnsystem investiert. Als der Tsunami 2011 kam, wurden aufgrund der Datenanalysen eine Minute vorher die Produktion in allen Fabriken Japans gestoppt und heruntergefahren, die Gasversorgung unterbrochen, Züge angehalten, Ampeln auf Rot gestellt. Daten haben also Leben gerettet - trotz der verheerenden Wirkung des Tsunami. Heute verwendet man übrigens dort auch die Fall-Sensoren in Notebooks: In Japan wird registriert, ob an einem Ort plötzlich gehäuft Notebooks herunterfallen. Das ist ein Frühwarnsystem - for free.

Mr. Smolan, auch Sie, wie mancher Amerikaner, tragen dieses Armband. Das ist kein Schmuck, oder?
(öffnet das Armband, steckt ein Ende in die Kopfhörerbuchse seines iPhone und zeigt das Display). Schauen Sie, dieses Armband zeichnet kontinuierlich meine Bio-Daten auf: Sie sehen hier, wann ich gestern Abend schlafen gegangen bin, wie lange ich geschlafen habe - das Dunkelgrüne zeigt meine Tiefschlafphasen. Dann sehen Sie hier meinen Blutdruck während der letzten 24 Stunden, meinen Puls, dazu die Anzahl der Schritte, die ich getan habe. Das alles wird jetzt in diesem Moment an eine Web-Site übertragen, auf die auch andere Armbandträger diese Bio-Daten von sich einstellen - und natürlich auf den Rechner meines Hausarztes.

Warum tun Sie das?
Ich suche meinen (in Deutsch!) 'Data-Doppelgänger'.

Um Himmels willen! Warum?
Nun, ich habe ein bestimmtes Alter und zwei Kinder in einem bestimmten Alter. Meine Mutter ist gebrechlich - und ich habe diese Lebens-Werte. Ich suche einen Menschen, der exakt in meiner biologischen Lebenssituation ist. Mit dem will ich mich darüber austauschen, wie man Probleme besser lösen kann. Ein 'Give and Take' an ziemlich ähnlicher Erfahrung.

Haben Sie ihren 'Doppelgänger' schon gefunden?
Noch nicht. Aber ich werde. Er ist irgendwo da draußen, vielleicht gibt es mehrere.

Verraten Sie uns, was man erwarten kann. Wir haben die Techniken doch noch gar nicht, die Daten für uns sprechend zu machen. Was dürfen wir also erwarten?
Ich wünschte, ich wäre klug genug, das schon prognostizieren zu können. Aber ich bin ein guter Zuhörer, und ich mache mir meinen Reim darauf, was mir smartere Experten sagen. Der Reim geht so. Wenn mir einer von der Zukunft erzählt, kann er etwa sagen: Wir werden zum Mars fliegen. Unausweichlich wird das so werden. Denn hier auf der Erde haben wir ja dann das Klima ruiniert und alle Rohstoffe verbraucht. Na gut, dann fliegen wir also zum Mars. Doch warum? Um dort dann denselben Schwachsinn anzurichten, der uns das Leben hier so sauer gemacht hat? Keine gute Idee. Wenn uns Aliens besuchen würden jetzt? Würden sie uns mögen? Wir rotten ja alles aus und verschwenden unsere Ressourcen. Wir töten uns sogar selber. Nein, sie würden uns Menschen als die größte Gefahr für den Planeten Erde wahrnehmen. Wir sind Idioten. Einerseits wissen wir das sogar selber. Andererseits sind Ursache und Wirkung in unserem Denken anscheinend nicht mehr zwingend verbunden. Wir lernen nicht. Aber ich bin kein Pessimist. Ich denke: Wenn die Dinge hier so schlecht stehen, dann muss es einfach besser werden. Und wir verfügen ja auch über die technische Errungenschaften, es besser wissen zu können: die Daten. Sehen Sie etwa die Daten zu unseren Ökosystemen also als das an, was für ein kleines Kind der glühende Ofen ist! Es hat sich die Finger verbrannt und wird den Ofen nie wieder berühren. Daten sind unser glühender Ofen. Sie brauchen nicht mehr zu wägen, ob diese oder jene Entscheidung zum Schutz der Erde, des Klimas getroffen werden muss oder nicht. Es ist unausweichlich, dass diese Entscheidungen getroffen werden müssen. Da benötigen Sie keinen Glauben mehr - das ist so.

Was macht Sie da so sicher?
Big Data ist noch so etwas wie ein Instrument, das lediglich Trends, Muster und Kohärenzen feststellt, so etwas also wie ein Tropfen in unserem Glas Wasser der Technik. Aber es tropfen und tropfen immer mehr Daten ein. Und wie bei einem Lackmus-Test wird das Wasser im Glas plötzlich die Farbe ändern, wenn nur ein weiterer Tropfen dazu gekommen ist. Dann werden Sie / wir verstanden haben, was Big Data ist - und kann.

Und wie soll das möglich sein?
Informationen, bloße Daten, sind nur ein Rohstoff. Der wirkliche Fortschritt entsteht an den Informations-Raffinerien, dort also, wo Algorithmen diese Informationen nach Mustern durchsuchen, oder aber noch besser: Wo Muster aufscheinen, nach denen niemand gesucht hat. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Ich sprach mit einem Mitarbeiter vom Sensor-Lab des MIT. Er war in Singapur gewesen, wo alle Daten, die überhaupt dort erhoben werden, für Wissenschaftler frei zugänglich sind. Er forschte über sechs Monate daran, die Wetterdaten der Stadt mit den Positionen von Taxis in der Stadt in Einklang zu bringen. Was kam heraus? Immer wenn es regnete, fuhren keine Taxis. Was? Das kann doch gar nicht sein! Eigentlich denkt man doch, dass Taxifahrer dann ihr bestes Geschäft machen, wenn es regnet. Also sprach er mit Taxifahrern und erfuhr: Vor zwanzig Jahren hat man in Singapur die Regel eingeführt, dass Taxifahrer, die bei Regenwetter in einen Unfall verwickelt werden, eintausend Dollar bei ihrer Taxifirma als Kaution hinterlegen müssen. Die kriegen sie erst sechs Monate später wieder. Also sagen sich Singarpurs Taxifahrer: Es sieht nach Regen aus, wir fahren jetzt nicht. Darum bekommen Sie in Singapur keine Taxis mehr, wenn sich der Himmel zuzieht.

Die Daten sagen also etwas anderes aus als das, was man erwartet.
Ich gebe Ihnen noch ein Beispiel aus Singapur: Um Betrunkene nachts nicht auf den Straßen rumlungern zu lassen, hat die Regierung verfügt, dass der Preis für nächtliche Taxi-Fahrten nach Mitternacht um 100 Prozent angehoben werden muss. So will man die Leute früher aus den Bars bekommen. Was haben die Taxifahrer daraus gemacht? Sie verabreden sich alle gemeinsam um 23:00 Uhr zum Abendessen. Die fahren erst wieder nach 0:00 Uhr, wenn die Tarife gestiegen sind.

Das klingt alles so heiter. Aber muss man sich nicht doch Sorgen machen, dass die Daten aus Überwachungskameras in die falschen Hände geraten ?
Ich sagte bereits, dass es immer wichtiger werden wird, genau zu wissen, wer was mit den Daten anfängt. Ich gebe Ihnen noch ein Beispiel: In New York gehört es zu den Selbstverständlichkeiten polizeilicher Arbeit, die 'Crime Scenes' auf einer Stadtkarte einzutragen und so herauszufinden, an welchen Orten sich Verbrechen verdichten. Eine Wissenschaftlerin der Columbia University hat etwas anderes gemacht: Sie hat nicht die 'Crime Scenes' kartographiert, sondern die Herkunftsorte der Täter. Siehe da: Man kann feststellen, dass viele Täter aus bestimmten, oft heruntergekommenen Stadtteilen kommen. Statt also die Polizei verstärkt an den 'Crime Scenes' einzusetzen, bringt man sie und andere staatliche Kräfte jetzt in die Stadtteile der Gefährdung, vor allem der Gefährdung von Jugendlichen. Jetzt investiert man dort in Nach-Schul-Programme, Drogenpräventions-Kliniken, Job-Angebote, Straßenverschönerung und auch Mitternachts-Basketball. Sie nennt das Projekt: Den Million-Dollar-Block. Denn es ist kostengünstiger in urbane Infrastruktur und Ausbildung zu investieren als in Gefängnisse.

Also sind es vor allem ökonomische Aspekte, die Big Data vorantreiben werden?
Es sind auch ökonomische Aspekte. Sie werden davon profitieren. Ich gebe Ihnen ein letztes Beispiel: Der Computerwissenschaftler Shwetak Patel hat ein Sensor-System entwickelt, mit dem man sehen kann, wieviel Energie ein Elektrogerät in einem Haushalt wirklich verbraucht und welches am meisten Strom frißt. Er lässt dazu den Stromverbrauch und die individuelle digitale Signatur eines jeden Haushaltgeräts von einem kostengünstigen Sensor erfassen, der seine Daten drahtlos an einen Computer gibt. Hier kann man nun sehen, dass zum Beispiel ein digitaler Videorekorder bis zu 11 Prozent des Stromverbrauchs in einem Haushalt ausmacht.


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