Quantcast
Channel: jetzt.de - SZ
Viewing all articles
Browse latest Browse all 3345

Und bald ist Schluss mit Polonaise

$
0
0
Kay Voges ruft am Theater Dortmund 'Dogma 20-13' aus - eine mitreißende Offensive für lebendige Kunst zwischen Theater und Kino.

'Live und interaktiv' solle das Kino der Zukunft sein, phantasierte Filmregisseur Francis Ford Coppola kürzlich in einem Interview: Er wolle 'mit Filmen auf Tournee gehen, auf das Publikum reagieren können, jeden Abend die Szenen neu arrangieren'. Die Reaktion darauf erfolgt prompt, sie kommt aus Dortmund und lautet: 'Herzlich Willkommen bei uns im Theater, Mr. Coppola!' Selbstironisch und mit sichtlich Spaß an der Provokation erinnert das Team um Schauspiel-Intendant Kay Voges daran, dass ein solches direktes, greifbares Live-Medium bereits existiert. Eine Offensive, die sich zuletzt nicht an Filmkollegen, sondern an die kulturpolitischen Spar-Apologeten hierzulande richtet.



Zwischen Kino und Theater soll das Projekt am Theater Dortmund liegen.

Zum inszenierten Clash zwischen Kino und Theater nutzt Regisseur Voges seine Premiere einer neuen Bühnenversion des Dogma-Films 'Das Fest'. Mit der routinierten Fröhlichkeit eines Entertainers tritt Schauspieler Ekkehard Freye vor den Vorhang und verteilt ein Manifest: schwarze Schrift und schwarzer Stern auf rotem Grund, der Titel 'Dogma 20-13'. Es sei an der Zeit, heißt es da, das längst zur profitablen Marke verkommene filmische 'Keuschheitsgelübde' Dogma "95 radikal neu zu beleben.

Die Regisseure Lars von Trier und Thomas Vinterberg hatten darin 1995 eine neue Authentizität eingefordert. Das Ziel jedes Films müsse es sein, den 'Figuren und Szenen die Wahrheit abzuringen'. Sie verordneten sich Handkameras und Live-Ton, drehten an Originalschauplätzen, verbannten Actionszenen, Musikeinspielungen, Filter und Nachbearbeitung und entsagten, zumindest vorläufig, dem Regisseurskult. Kay Voges und sein Team fordern nun in ähnlich augenzwinkerndem Verbalradikalismus nicht mehr die Reduktion der filmischen Mittel, sondern deren vollständige Offenlegung.

Es folgt ein mitreißendes Spektakel, das die Lust an der filmischen Illusion zugleich bedient und behindert. Über einen halbtransparenten Gaze-Vorhang im Bühnenvordergrund flimmert professionell produzierte Kinorealität: Sebastian Kuschmann als Christian, der junge Mann der später den sexuellen Missbrauch durch seinen Vater aufdecken wird, spaziert auf dem Weg zum Geburtstagsfest des Patriarchen durch sommerliche Felder. Gut, die wogenden Ähren im Vordergrund sind offensichtlich aus bemalter Wellpappe, Sonne und Wolken ebenfalls und das Muhen der Kühe klingt arg menschlich. Trotzdem lässt sich die Wahrnehmung verblüffend schnell auf diese kasperltheaterbunte Welt ein. Zugleich sieht das Publikum jedoch eine zweite Wirklichkeit: Wie nämlich unmittelbar hinter der durchlässigen Projektion ein Team aus dreizehn Frauen und Männern eben diese Szene gerade live herstellt.

Ganz neu ist dieses Prinzip nicht, die britische Regisseurin Katie Mitchell inszeniert seit Jahren mit großem Erfolg Live-Dreharbeiten auf der Bühne. Doch die Dortmunder haben sich für ihren theatralen Realtime-Film mit Dogma 20-13 ein eigenes strenges Regelwerk gesetzt. Dessen härteste Einschränkung: 'Das Kameraauge darf niemals von Menschen bedient werden' und es 'hält niemals still'. Folglich fährt auf der Bühne eine Kamera, wie ein kleiner, gemächlicher aber unnachgiebiger Roboter, entlang einer runden Schiene etwas über Kopfhöhe im Kreis. Jeder Szenenwechsel, jeder gefühlte Zoom oder Schwenk muss von den Darstellern gespielt werden. Dies gelingt mit fast schon provokanter Leichtigkeit, ebenso wie der Wechsel zwischen dezent-eindringlicher Filmmimik für die Nahaufnahmen und raumgreifender Bühnenpräsenz für Szenen vor der Leinwand.

In Thomas Vinterbergs kühl dokumentarisch wirkendem Film 'Das Fest' war Lachen nur erlaubt, wenn es im Halse stecken blieb. Die Theaterfassung von Voges und seinem Dramaturgen Alexander Kerlin spielt dagegen die subtile Komik der Dialoge brachial aus, bis hin zum Slapstick. Umso härter wirkt es, wenn Christian plötzlich aus dem Film heraus vor die Leinwand tritt und in seiner Festansprache erzählt, wie der Vater (Andreas Beck) ihn und seine Schwester als Kinder vergewaltigte. Die heiteren Gesichter im Close-up hinter ihm entgleisen, erstarren zu wächsernen Masken. Die Familie wird mit aller Macht versuchen, ihre Illusion einer heilen Welt zu verteidigen. Doch Konfetti, Polonaise und Pappkulissen müssen letztlich vor der Wahrheit kapitulieren - und zwar live.

Viewing all articles
Browse latest Browse all 3345