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Noch eine Kettenreaktion

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Die Katastrophe von Fukushima hat in Deutschland zum hastigen Atomausstieg geführt, inzwischen verdrängen die Öko-Energien Großkraftwerke - mit eklatanten Folgen

Langsam verblassen die Bilder. Ein Reaktorgebäude, das in der Ferne in die Luft fliegt. Männer in weißen Anzügen. Kinder in der Dekontamination, verlassene Ortschaften. Fukushima, Japan, im März 2011. Genau zwei Jahre ist es her. Überall auf der Welt haben die Ereignisse von Fukushima zu hektischen Selbstvergewisserungen geführt. Ein Tsunami, bei uns? Ein Ausfall aller Notstromsysteme? Rund um den Globus mündeten die Zweifel in Forschungsaufträgen und Expertenkommissionen. Atomkraftwerke wurden "Stresstests" unterzogen, als wären sie kriselnde Banken; nun sind Nachrüstungen fristgerecht abzuarbeiten.

Unter diesen Bedingungen kann alles weiterlaufen wie gehabt. Inzwischen ist zwar manche Schwachstelle enttarnt, aber international wenig geschehen. Auch das gehört zur Geschichte, zur Wahrheit dieses Atomunfalls. Der deutsche Atomausstieg, die waghalsigste Entscheidung dieser Bundesregierung, wird vor diesem Hintergrund umso bemerkenswerter. Zwei Jahre nach Fukushima ist hierzulande eine Kettenreaktion im Gang, die sich dem politischen Einfluss zunehmend entzieht. Sie verändert ein ganzes System.

Wie wenig die Bundesregierung selbst die Eigendynamik ihrer "Energiewende" voraussehen konnte, zeigen die Eingriffe, mit denen sie die Dinge ins Lot zu bringen versucht. Mal zwingt sie Kraftwerke dazu, als Reserve für schwankenden Ökostrom am Netz zu bleiben, mal versucht sie sich an "Strompreisbremsen". Derweil installieren die Deutschen fleißig Solarzellen - allein im Januar und Februar mit der Leistung eines mittelgroßen Kraftwerks. Die Öko-Energien überwinden derzeit jene Schwelle, ab der sie ihrerseits systemrelevant werden. Sie verdrängen das Großkraftwerk.



Manche stören sich an Windkraftanlagen und sprechen verächtlich von "Spargel". Doch erneuerbare Energien wie die Windkraft verdrängen inzwischen die Großkraftwerke. 

Mehr als ein Jahrhundert lang gehörte es zur Industrialisierung wie der Ottomotor zum Straßenverkehr. Kraftwerke entstanden überall dort, wo viel Strom nötig war. Sie garantierten nicht nur die Stromversorgung, sondern begründeten auch den unverhältnismäßig hohen politischen Einfluss von Stromkonzernen, in Deutschland wie auch anderswo. So schuf die schiere Größe der Kraftwerke eine gefährliche Abhängigkeit - auch von der Atomkraft.

Diese Abhängigkeit fällt hierzulande gerade in sich zusammen. Zunehmend stellen erneuerbare Energien das Geschäftsmodell der Kraftwerke auf den Kopf: Bei Wind und Sonne produzieren sie Strom ohne jegliche Kosten. Ein noch so modernes Kraftwerk kommt dagegen nicht an; es braucht Kohle, Gas oder Uran. Das kostet. Die Folge: Immer häufiger stehen die Kraftwerke inzwischen still - es gibt zu viel Ökostrom.

Das bekommen die großen Stromanbieter und deren Belegschaften zu spüren. Vattenfall etwa reagiert mit massiven Entlassungen auf die neue Lage. Der schwedische Versorger gab in der vorigen Woche bekannt, bis Ende nächsten Jahres 1500 von 20000 Stellen hierzulande abzubauen. Neben Vattenfall kämpfen in Deutschland auch die Marktführer RWE und Eon nach der Energiewende mit Einbußen.

Je größer und schwerfälliger die Kraftwerke sind, desto weniger kommen sie mit den neuen Verhältnissen zurecht; auch die Tage alter Braun- und Steinkohlemeiler sind gezählt. Allerdings verlangen die neuen Verhältnisse nach neuen Regeln. Ohne Reservekraftwerke und Speicher wird die Energiewende nicht funktionieren, Wind- und Sonnenstrom schwanken zu sehr. Es wird neuer Formen der Finanzierung dieser Reserve bedürfen; auch Ökostrom-Anbieter selbst werden mehr Verantwortung übernehmen müssen.

Das neue System nun zu organisieren, ist die nächste große Herausforderung für die Energiewende-Republik Deutschland, mehr noch als der schleunige Atomausstieg. Der Streit darüber ist längst in vollem Gange; er wird zum letzten großen Verteilungskampf zwischen Neuer und Alter Welt. Genau deshalb aber auch sind Reformen so schwierig - etwa die laufende Debatte um eine Strompreisbremse. Schon diesen Montag treffen Bund und Länder zusammen, um über kurzfristige Lösungen zu beraten. Mehr als das ist vor der Wahl nicht mehr drin: Die Aufgabe ist einfach zu groß.


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