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Alte Mutmacher

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Bei den Aktiv-Senioren engagieren sich Manager, die längst im Ruhestand sind. Zu Hause halten sie es nicht aus, also geben sie ihre Erfahrungen an jüngere Menschen weiter

Henrich Wöhrmann ist seit 19 Jahren im Ruhestand, und er muss los. 11.56 Uhr. Der nächste Kunde wartet, ein Fotograf, netter Kerl, tolles Geschäftsmodell. Wöhrmann ist spät dran. Er hastet die Treppen hinunter, zündet sich vor der Tür im Laufen eine Zigarette an, dann verschwindet seine hagere, große Figur um die Straßenecke.

Zwei Monate hat er es damals ausgehalten. Im Ruhestand, zu Hause. Dann ist er nach Indien gegangen. Ein Unternehmer brauchte Hilfe, es ging um Maschinen für Zementwerke. Wöhrmann war Jahrzehnte Manager bei Siemens. Dem indischen Unternehmer konnte er spielend helfen. Und auch sich selbst. Wöhrmann hatte sein Modell für den Ruhestand gefunden. Bis heute hat der inzwischen 76-Jährige mehr als 500 Firmen beraten - ehrenamtlich.

Hinsetzen und nichts tun? Für Henrich Wöhrmann unvorstellbar.

Wöhrmann gehört damit zu einer Minderheit. 91 Prozent der deutschen Rentner lehnen im Alter jegliche Verpflichtung ab, nur jeder Vierte möchte sich ehrenamtlich engagieren, ergab eine Umfrage der Körber-Stiftung im vergangenen Jahr. Wenn Wöhrmann über diese 'Normalrentner' spricht, dann klingt das so: 'Das Gehirn rostet schneller ein, als man denkt. Mit vielen alten Kollegen, die nichts mehr machen, finde ich überhaupt keine Gesprächsthemen mehr.' Dabei könnten die Alten mit ihren Erfahrungen den Jungen doch eine Hilfe sein, so wie er. Findet er. Und finden die Aktiv-Senioren, der Verein, bei dem er sich inzwischen engagiert. Die Idee: Ehemalige Unternehmer und Führungskräfte beraten ehrenamtlich Unternehmen, die Hilfe brauchen.

Aber wer braucht Hilfe von jemandem, der seit fast 20 Jahren aus dem Berufsleben heraus ist? Als Henrich Wöhrmann Manager bei Siemens war, gab es Notizblöcke, keine Smartphones; Telefonbücher, kein Intranet; Rohrpost, keine Rundmails. 20 Jahre, eine Generation. Seither hat sich die Wirtschaft rasant geändert, die Geschäftsmodelle, die Geschäftsbedingungen. Es ist eine andere Welt.

Die Welt von Sebastian Fuchs. Der 32-Jährige hat Betriebswirtschaft studiert, seinen Doktor in dem Fach gemacht, bei einer großen Unternehmensberatung gearbeitet. Vor zwei Jahren tat er sich mit Kollegen zusammen und gründete eine eigene Firma. 'Wir sind drei promovierte Betriebswirte. Theoretisch wissen wir ziemlich genau, wie man ein Unternehmen führen muss', sagt er. Theoretisch. 'Praktisch hatten wir viele Probleme, mit denen wir nie gerechnet hätten.'

Von den Schwierigkeiten ist nichts zu sehen im Büro der Firma, wenige Hundert Meter von der Münchner Freiheit entfernt. Parkettfußboden, hohe Decken, helle Möbel, moderne Kunst an den Wänden. Typisches Büro, typischer Jungunternehmer: schlank, Anzug, gegelte Haare, gepflegter Hipster-Vollbart. Ein Beamer projiziert die Präsentation an die Wand, mit der sich das Unternehmen möglichen Kunden präsentieren will, Fuchs erklärt die Folien. 'Herr Doktor Fuchs, ich verstehe das nicht', unterbricht ihn Wöhrmann. 'Was ist eine Conjoint-Analyse?' Fuchs stutzt. 'Ein guter Punkt', sagt er dann. 'Das ist eine statistische Analyse, wie ein Produkt im Ganzen auf den Kunden wirkt. Vielleicht müssen wir das erklären.' Er schreibt etwas in sein Notizbuch, schaut auf. 'Sehen Sie, deswegen schätze ich die Zusammenarbeit mit Ihnen so.'

Wöhrmann ist von Anfang an dabei gewesen, hat jeden Schritt der Gründer begleitet. Zwei Tage nach der Gründung hat Sebastian Fuchs damals bei Peter Ramm angerufen. Ramm, 72, ist Regionalleiter der Aktiv-Senioren in München. Knapp 35 Rentner und Pensionäre engagieren sich regelmäßig als Berater in dem Verein, darunter zwei Frauen. Nagelstudios, Bestattern, Schornsteinfegern, Tierärzten oder Onlinehändlern helfen die Senioren. Meist sind es Unternehmen in der Gründungsphase, denen sie Tipps zum Businessplan geben, zu Finanzierungsmöglichkeiten, Rechtsfragen. Oft melden sich aber auch Firmen, die Schwierigkeiten haben. Jede Woche kommen fünf bis zehn neue Fälle rein, sagt Ramm. Die verteilt er dann, nach Interesse, nach Zeitbudget.

Viele Fälle landen dann bei Henrich Wöhrmann. Etwa 20 Firmen betreut der ehemalige Siemensianer derzeit. 'Er ist einer der Aktivsten', sagt Ramm. 'Ich muss manchmal aufpassen, dass er nicht zu viel macht.' Wöhrmann schmunzelt über die Aussage. 'Ich mache normalerweise drei bis vier Beratungstermine pro Woche, kein Problem.' Nur wenn es bei den Klienten drängt, dann könnten es auch schon mal ein paar mehr werden.

Aber warum tut sich jemand den Stress an, wenn er sein ganzes Leben gearbeitet hat? Warum lässt Wöhrmann nicht die schnöde Wirtschaft wirtschaften, geht wandern oder einen Garten anlegen? 'Ich gehe wandern und arbeite gern im Garten', sagt der 76-Jährige. 'Aber das reicht mir nicht.' Er sei schon immer ein Abenteurer gewesen. 'Wenn Sie vier Jahre in einem Bereich gearbeitet haben, dann kennen Sie alles. Dann ist das Routine, langweilig.' Manche würden Wöhrmanns Arbeitsleben daher vielleicht als rastlos beschreiben: Logistik, Service, Einkauf, Qualitätssicherung, alle paar Jahre wechselte der studierte Ingenieur bei Siemens in eine neue Abteilung. 'Mit 58 Jahren hatte ich dann schlicht alles gesehen', sagt er. Also wurde er 1994 Frührentner. Allerdings nicht ohne einen Plan.

Er hatte damals von Senior Expert Service gehört. Die Bonner Stiftung vermittelt weltweit 'Experten im aktiven Ruhestand', wie sie schreiben. Die Rentner und Pensionäre bilden in anderen Ländern ehrenamtlich Fachkräfte und Manager aus, helfen Mittelständlern mit ihrer Erfahrung in schwierigen Situationen. Die Unternehmen vor Ort müssen lediglich eine Vermittlungsgebühr und die Kosten für die Reise und Verpflegung der Senioren-Experten zahlen. Nicht umsonst, aber im Vergleich zu professionellen Unternehmensberatungen fast nichts.

Wöhrmann sieht als ehrenamtlicher Berater zunächst Indien, dann Bosnien-Herzegowina, schließlich Polen. 'Danach hat meine Frau gesagt, ich soll mir was in der Nähe suchen.' Seit 2002 ist Wöhrmann bei den Aktiv-Senioren Bayern. Das Prinzip des 1984 gegründeten Vereins ist dem Senior Expert Service ähnlich. Die Berater bekommen für ihre Mühe kein Geld, die Kunden zahlen einen Kostenbeitrag an den Verein: meist zwischen 100 und 150 Euro pro Auftrag. Ein Betrag, für den normale Unternehmensberater nur wenige Minuten arbeiten würden. Normale Unternehmensberater wie Sebastian Fuchs.

'Wir verknüpfen Strategie- und Managementberatung mit Data-Mining', beschrieb Sebastian Fuchs sein Unternehmenskonzept beim ersten Treffen Henrich Wöhrmann und Peter Ramm. 'Eine schöne Wortwolke', sagte daraufhin Wöhrmann. 'Erklären Sie das mal Ihrer Putzfrau', sagte Ramm. Fuchs und seine Kollegen waren baff. 'Eine einfache Frage, die wir erst mal gar nicht beantworten konnten.' Es ist das Konzept und die Stärke der Aktiv-Senioren, gerade im Vergleich zu professionellen Beratern. 'Wir haben keine eigenen Interessen. Wir stellen also oft die dümmsten Fragen - und die ungemütlichsten', sagt Ramm. 'Und diese Fragen wurzeln zu 90 Prozent in gesundem Menschenverstand, ein bisschen in Erfahrung. Fachwissen ist unwichtig', sagt Wöhrmann.

Als kritische Frager, wohlwollende Mentoren, tröstende Mutzusprecher, habe er die Aktiv-Senioren erlebt, sagt Sebastian Fuchs. 'Als Gründer ist man oft betriebsblind und detailverliebt. Die beiden haben uns mit kritischen Nachfragen oft gezeigt, worauf wir unseren Fokus richten sollen.' Ärger zwischen den Gesellschaftern, Probleme mit Mitarbeitern, vieles habe sich so schnell gelöst. 'Ohne die beiden hätten wir größere Schwierigkeiten gehabt.'

Henrich Wöhrmann sieht nun entspannt aus, er lächelt. 'Wissen Sie, Herr Doktor Fuchs', sagt er, 'für uns hat das ja auch viele Vorteile: Wir erfahren so viel.' Er höre jede Woche die neuesten Geschäftsideen im Internet, erfahre als Erster von interessanten Ingenieurtrends, bekomme die großen und kleinen Sorgen der deutschen Wirtschaft hautnah mit. 'Da rostet man nicht ein.'

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