Kartenkrakel gegen Datenkrake: Zwei betörend schöne Bildbände zeigen, dass Landkarten nicht immer nur mehr oder weniger korrekte Darstellungen der Welt sind - oft locken sie einen auf wundersam falsche Fährten und Irrwege.
Mit den Landkarten ist es momentan wie mit der Malerei am Ende des 19. Jahrhunderts: Plötzlich kam damals die Fotografie auf, was bedeutete, dass niemand mehr die malerische Wiedergabe irgendwelcher Landschaften brauchte, schließlich konnte man Gegenden, Gesichter, Gegenstände ab sofort akkurat reproduzieren. Die einen stimmten Abgesänge auf die Malerei an, die anderen aber stürzten sich mit ihren Pinseln in völlig neue Abenteuer: Erlöst von der Pflicht, die Dinge objektiv wiederzugeben, wurden aus Malern Im- und Expressionisten, Pointil- und Surrealisten, kurzum, die Malerei verlegte alle Kraft darauf, die eigenen Freiheiten und Grenzen zu erkunden.
Die Kartografie ist an einem ähnlichen Punkt angelangt: Jeder hat heute seine Map-App auf dem Handy und damit die ganze Welt in der Hosentasche. In dem Moment aber, in dem Landkartenmaler so überflüssig werden wie Korbflechter und Schriftsetzer, blüht die Kartografie auf wie selten zuvor. Kein Wunder, die Landkartenmaler werden durch die digitale Vermessenheit erstmals davon befreit, uns möglichst maßstabsgetreu durch eine Gegend zu geleiten, und können anfangen, die Welt nach ihrem eigenen Willen zu gestalten. Die Pflicht hat Google übernommen, es lebe die Kür. So ist es vielleicht auch kein Zufall, dass nun zeitgleich zwei Bücher mit bizarren, subjektiven, fehlerhaften oder auch historisch kuriosen Landkarten erscheinen.
Die meisten Landkarten kennt man aus dem Schulatlas - dabei gibt es anderswo noch viel spannendere zu entdecken.
Der Gestalten-Verlag versammelt in 'A Map of the World According to Illustrators and Storytellers' Landkarten des 21. Jahrhunderts, darunter viele Werbeillustrationen und rundumdesignte Datenvisualisierungen, aber auch geografische Gemälde und originelle Stadtpläne. Auffallend viele dieser Karten - siehe etwa das Amerikabild von Oliver Jeffers, das mit Ölfarbe auf eine Holzplatte gemalt wurde - haben etwas betont Raues, Hinskizziertes, ja gerade Jeffers" grob gepinselte Länderbilder ergeben eher ein Klecksikon als einen Atlas, so als müsse man sich die Welt in Zeiten der Datenkraken durch Kartenkrakeln erst mal ganz neu aneignen.
Solche Karten machen immer auch den eigenen eingeschränkten Blickwinkel zum Thema. So setzen sie sich ab von der Behauptung handelsüblicher Atlanten, die Welt objektiv ordnen zu können. Andererseits wirken sie dadurch auch so persönlich wie Tagebucheinträge oder Briefe. Die Grafikerin Marlena Zuber etwa zeigt ihre Heimatstadt Toronto aus der Alltagsperspektive: Mal zeichnet sie den Fahrradweg zu ihrem Geliebten, mal ihre Stammstrecke als Fußgängerin. Das, was im Vordergrund eines gewöhnlichen Stadtplans steht, die maßstabsgetreu wiedergegebenen Straßen, Plätze und Gebäude wird so zur beweglichen Kulisse, vor der Zubers Erinnerungen in Form von kleinen Texten frei flanieren dürfen: 'In dieser Markthalle hab ich mit meinem Freund Schluss gemacht: Neonlicht, viele Leute, kein Platz für Schwäche oder Gefühlswirrwarr. Kann ich nur empfehlen.'
Schöner noch als dieses Kompendium ist aber 'Strange Maps ', das der Liebeskind-Verlag herausgebracht hat. Der belgische Diplomat Frank Jacobs sammelt seit seiner Jugend seltsame Landkarten: Propagandamaterial und Irrtümer, Versuche, weltliterarische Gegenden wie Mittelerde geografisch dingfest zu machen oder auch topografische Allegorien wie 'La Carte de Tendre', die die Stationen auf dem Weg zum Liebesglück darstellt, als wären sie wirkliche Wege und Orte.
Die Karten sind eine Art Best-of aus Jacobs gleichnamigen Blog, auf dem er seit Jahren kartografische Kuriositäten nicht nur präsentiert, sondern immer auch mit klugen Begleittexten erklärt. Ohne die wäre man aber oft auch aufgeschmissen, derart rätselhaft wirken viele seiner Fundstücke: Die Dame rechts im Bild soll Deutschland sein. Sie stammt aus einem englischen Atlas, der im 19. Jahrhunderte versuchte, die Umrisse europäischer Länder mit ihren vermeintlichen Nationalcharakteren in Deckung zu bringen. Von heute aus betrachtet, zeigen die Bilder eher, welche Vorurteile die Briten seinerzeit auf ihre europäischen Nachbarn und Rivalen projizierten: Russland erscheint als Bär, Irland als tumbe Bauersfrau mit Kind.
Eine andere Art der wechselseitigen Projektion stellt Jacobs einander gegenüber, wenn er zwei Karten aus Frankreich und Deutschland zeigt. Beide sind Sehnsuchtsgebilde, beide zeigen, wie man sich Europa nach dem Ende des Ersten Weltkriegs erträumte: einmal ohne Frankreich (wird großzügig aufgeteilt zwischen Deutschland und Italien), das andere mal mit einer neutralen Pufferzone von Belgien bis zur Schweiz und einem ansonsten angenehm kleinteilig zersplitterten Deutschland, auf dass endlich Ruhe sein möge.
Am schönsten an Jacobs" Sammlung sind all die kartografischen Irrtümer, Phantasiegebilde, die ihre Komik daraus gewinnen, dass ihre Zeichner glaubten, die Welt korrekt dargestellt zu haben: Eine ausnehmend akkurate Karte von 1650 zeigt Kalifornien als Insel im Pazifik - eine Vorstellung, die auf einen Ritterroman des 16. Jahrhunderts zurückging, in dem es heißt, dass 'rechter Hand von Indien eine Insel namens California liegt, die sich nahe am Irdischen Paradiese befindet'. Die ersten Spanier, die die lang gestreckte Halbinsel entlangsegelten, die wir heute als Baja California kennen, waren dann sicher, die romaneske Insel gefunden zu haben. Die aus diesem Irrtum hervorgegangene Karte wurde dann wiederum lange Zeit als Beweis dafür hergenommen, dass der Roman Recht hatte.
Frank Jacobs: Seltsame Karten. Ein Atlas kartographischer Kuriositäten. Aus dem Englischen von Matthias Müller. Liebeskind Verlag, München 2012. 128 Seiten, 29,80 Euro.
Antonis Antoniou u.a.: A Map of the World - The World According to Illustrators and Storytellers Zeitgenössische Karten von bekannten Designern, Illustratoren und Kartographen. Die Gestalten Verlag, Berlin 2013. 224 Seiten, 39,90 Euro.
Mit den Landkarten ist es momentan wie mit der Malerei am Ende des 19. Jahrhunderts: Plötzlich kam damals die Fotografie auf, was bedeutete, dass niemand mehr die malerische Wiedergabe irgendwelcher Landschaften brauchte, schließlich konnte man Gegenden, Gesichter, Gegenstände ab sofort akkurat reproduzieren. Die einen stimmten Abgesänge auf die Malerei an, die anderen aber stürzten sich mit ihren Pinseln in völlig neue Abenteuer: Erlöst von der Pflicht, die Dinge objektiv wiederzugeben, wurden aus Malern Im- und Expressionisten, Pointil- und Surrealisten, kurzum, die Malerei verlegte alle Kraft darauf, die eigenen Freiheiten und Grenzen zu erkunden.
Die Kartografie ist an einem ähnlichen Punkt angelangt: Jeder hat heute seine Map-App auf dem Handy und damit die ganze Welt in der Hosentasche. In dem Moment aber, in dem Landkartenmaler so überflüssig werden wie Korbflechter und Schriftsetzer, blüht die Kartografie auf wie selten zuvor. Kein Wunder, die Landkartenmaler werden durch die digitale Vermessenheit erstmals davon befreit, uns möglichst maßstabsgetreu durch eine Gegend zu geleiten, und können anfangen, die Welt nach ihrem eigenen Willen zu gestalten. Die Pflicht hat Google übernommen, es lebe die Kür. So ist es vielleicht auch kein Zufall, dass nun zeitgleich zwei Bücher mit bizarren, subjektiven, fehlerhaften oder auch historisch kuriosen Landkarten erscheinen.
Die meisten Landkarten kennt man aus dem Schulatlas - dabei gibt es anderswo noch viel spannendere zu entdecken.
Der Gestalten-Verlag versammelt in 'A Map of the World According to Illustrators and Storytellers' Landkarten des 21. Jahrhunderts, darunter viele Werbeillustrationen und rundumdesignte Datenvisualisierungen, aber auch geografische Gemälde und originelle Stadtpläne. Auffallend viele dieser Karten - siehe etwa das Amerikabild von Oliver Jeffers, das mit Ölfarbe auf eine Holzplatte gemalt wurde - haben etwas betont Raues, Hinskizziertes, ja gerade Jeffers" grob gepinselte Länderbilder ergeben eher ein Klecksikon als einen Atlas, so als müsse man sich die Welt in Zeiten der Datenkraken durch Kartenkrakeln erst mal ganz neu aneignen.
Solche Karten machen immer auch den eigenen eingeschränkten Blickwinkel zum Thema. So setzen sie sich ab von der Behauptung handelsüblicher Atlanten, die Welt objektiv ordnen zu können. Andererseits wirken sie dadurch auch so persönlich wie Tagebucheinträge oder Briefe. Die Grafikerin Marlena Zuber etwa zeigt ihre Heimatstadt Toronto aus der Alltagsperspektive: Mal zeichnet sie den Fahrradweg zu ihrem Geliebten, mal ihre Stammstrecke als Fußgängerin. Das, was im Vordergrund eines gewöhnlichen Stadtplans steht, die maßstabsgetreu wiedergegebenen Straßen, Plätze und Gebäude wird so zur beweglichen Kulisse, vor der Zubers Erinnerungen in Form von kleinen Texten frei flanieren dürfen: 'In dieser Markthalle hab ich mit meinem Freund Schluss gemacht: Neonlicht, viele Leute, kein Platz für Schwäche oder Gefühlswirrwarr. Kann ich nur empfehlen.'
Schöner noch als dieses Kompendium ist aber 'Strange Maps ', das der Liebeskind-Verlag herausgebracht hat. Der belgische Diplomat Frank Jacobs sammelt seit seiner Jugend seltsame Landkarten: Propagandamaterial und Irrtümer, Versuche, weltliterarische Gegenden wie Mittelerde geografisch dingfest zu machen oder auch topografische Allegorien wie 'La Carte de Tendre', die die Stationen auf dem Weg zum Liebesglück darstellt, als wären sie wirkliche Wege und Orte.
Die Karten sind eine Art Best-of aus Jacobs gleichnamigen Blog, auf dem er seit Jahren kartografische Kuriositäten nicht nur präsentiert, sondern immer auch mit klugen Begleittexten erklärt. Ohne die wäre man aber oft auch aufgeschmissen, derart rätselhaft wirken viele seiner Fundstücke: Die Dame rechts im Bild soll Deutschland sein. Sie stammt aus einem englischen Atlas, der im 19. Jahrhunderte versuchte, die Umrisse europäischer Länder mit ihren vermeintlichen Nationalcharakteren in Deckung zu bringen. Von heute aus betrachtet, zeigen die Bilder eher, welche Vorurteile die Briten seinerzeit auf ihre europäischen Nachbarn und Rivalen projizierten: Russland erscheint als Bär, Irland als tumbe Bauersfrau mit Kind.
Eine andere Art der wechselseitigen Projektion stellt Jacobs einander gegenüber, wenn er zwei Karten aus Frankreich und Deutschland zeigt. Beide sind Sehnsuchtsgebilde, beide zeigen, wie man sich Europa nach dem Ende des Ersten Weltkriegs erträumte: einmal ohne Frankreich (wird großzügig aufgeteilt zwischen Deutschland und Italien), das andere mal mit einer neutralen Pufferzone von Belgien bis zur Schweiz und einem ansonsten angenehm kleinteilig zersplitterten Deutschland, auf dass endlich Ruhe sein möge.
Am schönsten an Jacobs" Sammlung sind all die kartografischen Irrtümer, Phantasiegebilde, die ihre Komik daraus gewinnen, dass ihre Zeichner glaubten, die Welt korrekt dargestellt zu haben: Eine ausnehmend akkurate Karte von 1650 zeigt Kalifornien als Insel im Pazifik - eine Vorstellung, die auf einen Ritterroman des 16. Jahrhunderts zurückging, in dem es heißt, dass 'rechter Hand von Indien eine Insel namens California liegt, die sich nahe am Irdischen Paradiese befindet'. Die ersten Spanier, die die lang gestreckte Halbinsel entlangsegelten, die wir heute als Baja California kennen, waren dann sicher, die romaneske Insel gefunden zu haben. Die aus diesem Irrtum hervorgegangene Karte wurde dann wiederum lange Zeit als Beweis dafür hergenommen, dass der Roman Recht hatte.
Frank Jacobs: Seltsame Karten. Ein Atlas kartographischer Kuriositäten. Aus dem Englischen von Matthias Müller. Liebeskind Verlag, München 2012. 128 Seiten, 29,80 Euro.
Antonis Antoniou u.a.: A Map of the World - The World According to Illustrators and Storytellers Zeitgenössische Karten von bekannten Designern, Illustratoren und Kartographen. Die Gestalten Verlag, Berlin 2013. 224 Seiten, 39,90 Euro.