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Eine Verfassung wie Wikipedia

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In Island haben Bürger ein neues Grundgesetz geschrieben, Experten loben den Entwurf, doch die alten Parteien bremsen.

Isländische Politiker reden gern mit Ausländern, sie wollen wissen, was die Welt so denkt über ihre kleine Insel. Derzeit bekommt man sie aber kaum zu fassen. Strategietreffen, Debatten, Abstimmungen; sie schwirren hin und her zwischen dem Althing - dem Parlament am zugefrorenen See von Reykjavik -, ihren Büros und diversen Innenstadt-Lokalen. Es herrscht Endspiel-Stimmung. Im April wird ein neues Parlament gewählt, den Abgeordneten bleiben wenige Arbeitstage, um Liegengebliebenes zu erledigen. Darunter ein nicht ganz unwesentliches Vorhaben: die neue Verfassung, die sie billigen müssen.


Mit Wikipedia hat eine Verfassung eigentlich nicht viel gemeinsam

Die Parlamentarier wissen, dass ein international beachtetes politisches Experiment in ihren Händen liegt, aber es ist durchaus möglich, dass Islands Parteien es in diesen hektischen Tagen scheitern lassen. Eine Mehrheit der Abgeordneten sei für die neue Verfassung, heißt es, der Rest strikt dagegen. Es wird getrickst und intrigiert mit aller Macht. 'Wenn der Verfassungsgebungsprozess misslingt, wäre das ein frontaler Angriff auf Islands Demokratie', sagt der Ökonomie-Professor Thorvaldur Gyslason und hat insofern recht, als der Wille des Volkes dann tatsächlich eklatant missachtet worden wäre. Denn es ist sein Text, der Text des Volkes, um den es geht. Einzigartig ist, wie er zustande kam: Noch nie haben sich die Einwohner eines Landes so selbstbestimmt und transparent, so frei von Parteien-Einfluss und Partikularinteressen neue Regeln des Zusammenlebens geben können. Daher das Interesse im Ausland, wo Island oft als politisches Labor gesehen wird. Obendrein bekräftigten zwei Drittel der Bürger im vergangenen Oktober per Referendum, dass sie genau diesen von ihnen erarbeiteten Text auch wirklich als Basis für eine künftige Verfassung wünschen. Und nun könnte dieser Volkswille in der Maschine der Parteipolitik zu Staub zerrieben werden.

Die neue Verfassung, sie ist auch der Versuch eines neuen Anfangs. Island wurde besonders hart von der Finanzkrise getroffen, kein Land stürzte tiefer. Mit dem luxuriösen Leben, das die Privatisierungswelle und der Boom Anfang des Jahrhunderts den 320000 Inselbewohnern beschert hatten, war es schlagartig vorbei, als Ende 2008 die drei größten Banken pleitegingen. Es blieben ein Berg von Schulden, Wut auf geldgeile Manager und rücksichtslose Politiker - sowie der Wille, es künftig anders, besser zu machen. Das neue Grundgesetz sollte ein Schritt auf diesem Weg sein, zumal die alte Verfassung eher als Provisorium gedacht war. Sie ist die leicht angepasste Kopie einer dänischen Verfassung aus dem 19. Jahrhundert, die nach der isländischen Unabhängigkeit 1944 übernommen und seither trotz mehrerer Versuche kaum renoviert wurde.

Eine Gruppe von Bürgern brachte daher einen Prozess in Gang, unterstützt von der Regierung aus Links-Grünen und Sozialdemokraten, die im Frühjahr 2009 an die Macht gekommen war und noch immer amtiert. Knapp tausend zufällig ausgewählte Isländer äußerten Wünsche, lieferten Ideen. Im November 2010 wurde aus 523 Kandidaten ein Bürgergremium aus 25 Personen gewählt. Zwar erhob der Oberste Gerichtshof auf Antrag der alten konservativen Eliten Einspruch, doch umging das Parlament das Urteil, indem es die 25 zum Verfassungsrat erklärte. Innerhalb von nur knapp vier Monaten schrieben die Männer und Frauen - begleitet von den Bürgern via Facebook, Youtube, Twitter und anderen Websites - einen Text zusammen. Der enthält nach Ansicht der Venedig-Kommission des Europarates ein paar Unstimmigkeiten, wird insgesamt aber von führenden Verfassungsrechtlern gelobt. Er gibt dem Parlament mehr Macht, stärkt Menschen- und Bürgerrechte - etwa die Informationsfreiheit -, ermöglicht mehr direkte demokratische Teilhabe und trägt einem großen Wunsch der Isländer Rechnung: ihre natürlichen Ressourcen zu schützen. Nach dem gewonnenen, allerdings nicht bindenden Referendum, bei dem 48 Prozent der Berechtigten abstimmten, steht nun die letzte, aber höchste Hürde bevor. Laut den noch geltenden Regeln muss die neue Verfassung von zwei Parlamenten gebilligt werden, mit einer Neuwahl dazwischen. Für die Reformer ist klar: Damit das Projekt nicht entgleist, muss noch in dieser Legislaturperiode ein Votum her, womit man wieder bei den taktischen Spielen im Parlament wäre.

Im Besprechungszimmer des Althing bebt Birgitta Jónsdóttir vor Ungeduld und Ärger. Die Wikileaks-Aktivistin und Abgeordnete der Piratenpartei kann man als eine der Mütter der neuen Verfassung bezeichnen, sie war von Anfang an dabei. Jetzt wittert sie Verrat, und zwar bei den Sozialdemokraten, die nur halbherzig hinter der Sache stünden. Deren jüngste Idee, das nächste Parlament per Resolution auf eine Abstimmung bis spätestens Ende 2014 zu verpflichten, sei ein Ablenkungsmanöver - und nutzlos, weil laut Umfragen die Linke bei der bevorstehenden Wahl ihre Mehrheit verlieren wird. Einige Sozialdemokraten, etwa ihr neuer Parteiführer Árni Páll Árnason, versuchten die Abstimmung insgeheim zu sabotieren, sagt Birgitta.

Auch Magnús Orri Schram zählt sie zu den Blockierern ('Árnasons Schoßhund'), aber der beteuert, er habe lautere Absichten. Natürlich wolle er die neue Verfassung retten. 'Ich will nur nicht, dass wir jetzt unter Zeitdruck abstimmen.' Es ärgert ihn, zur Zielscheibe der Aktivisten geworden zu sein. Schuld an der Lage sei allein die konservative Unabhängigkeitspartei, die Sand in den parlamentarischen Betrieb werfe. Damit liegt er nicht falsch, wie ein Blick ins holzgetäfelte Plenum beweist, wo wieder einmal ein Konservativer per Filibuster Zeit schindet, vor leeren Rängen.

'Hier kämpft das alte Island gegen das neue', sagt Birgitta Jónsdóttir. Bjarni Benediktsson, 43, steht für dieses alte Island, das der Fischbarone und Bankmanager. Der jugendlich wirkende Vorsitzende der Unabhängigkeitspartei und mögliche neue Premierminister bestreitet auch gar nicht, wie sehr ihm das ganze Verfassungsprojekt widerstrebt. 'Es hätte gereicht, ein paar Dinge zu ändern, sie sind viel zu weit gegangen.' Etliche Artikel seien vage und widersprüchlich, geradezu 'sozialistisch' die Sätze zu den natürlichen Ressourcen. Letztere werden im Text zum öffentlichen Eigentum erklärt, das nur gegen einen 'realistischen Preis' zur Nutzung verliehen werden dürfe. Hintergrund dieser Passage ist ein Dauerstreit der isländischen Politik der vergangenen Jahre: Weite Teile der Gesellschaft glauben, die Fischfangrechte hätten in den Achtzigerjahren bei der Einführung des Quotensystems nicht verschenkt werden dürfen; viele Großfischer wurden steinreich durch ihre Lizenzen, die sie auch verkaufen konnten. Nicht nur dies soll nun korrigiert werden, die Verfassungseltern haben auch Islands Rohstoffe und Energiequellen im Auge, die nicht in private Hände fallen sollen. Das alles missfällt Bjarni und seiner Klientel.

Birgitta Jónsdóttir sagt, sie hoffe jetzt auf das Volk. Neulich trat sie erstmals beim Samstagsprotest auf, zu dem sich die Bürger seit Ende Februar in der Altstadt von Reykjavik versammeln. Ein Parteikollege von ihr stellte vorige Woche einen Misstrauensantrag gegen die Regierung im Althing, der wurde abgeschmettert. Ökonom Thorvaldur, der zu den 25 Verfassungsautoren zählt, warnt die Sozialdemokraten vor einem kolossalen Absturz bei der Wahl, wenn sie nicht endlich unzweideutig für diesen Text stritten. Und er spricht von einer 'tiefen Wunde', die ein Scheitern der neuen Verfassung der isländischen Gesellschaft schlagen würde. Er hat sich jetzt mit Ärzten, Wissenschaftlern und Theologen verbündet - politischen Laien wie er - und zum Vorsitzenden einer neuen Partei wählen lassen. Sie heiße Demokratische Partei, sagt er. 'Weil die Demokratie in Island bedroht ist.'

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