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Angst um die Touristen

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Nach dem brutalen Überfall auf ein Schweizer Ehepaar steht Indiens Ruf als Reiseland auf dem Prüfstand. Das Auswärtige Amt warnt bereits: Frauen sollten 'besondere Vorsicht' walten lassen.

München - Millionen Touristen reisen jedes Jahr durch Indien, viele davon Backpacker, die nur das Nötigste im Rucksack dabei haben. Sie fahren mit Bussen oder dem Fahrrad, übernachten möglichst günstig, am liebsten bei indischen Familien, die sie auf der Reise kennenlernen. So ähnlich hatten sich das wohl auch die Schweizer Touristin und ihr Mann vorgestellt, die am Freitag im zentralindischen Bezirk Madhya Pradesh von sechs bis acht Männern angegriffen wurden. Die 39-jährige Schweizerin wurde mehrfach vergewaltigt, ihr Ehemann musste die Tat gefesselt mitansehen. Das Paar war mit dem Fahrrad unterwegs und wollte in einem Wald nahe der Tempelstadt Orchha zelten. Das brutale Verbrechen schockiert nicht nur die zuständigen Behörden in Indien und der Schweiz. Auch viele Touristen fragen sich nun, ob Indien noch ein sicheres Reiseziel ist.



Das Auswärtige Amt warnt Frauen vor einer Reise nach Indien.

Tatjana Thimm ist Professorin für Tourismusmanagement in Konstanz. Noch 2008 reiste sie allein durch Indien, das Land steht im Zentrum ihrer Forschung. 'Heute würde ich das nicht mehr machen - zumindest nicht in Madhya Pradesh' sagt sie. Auch das Auswärtige Amt hat seine Sicherheitshinweise für Indien an diesem Montag angepasst: 'Vor dem Hintergrund zuletzt berichteter sexueller Übergriffe' sollten sich vor allem Frauen 'von besonderer Vorsicht leiten lassen'. Die Schweizer Regierung hatte bereits im Februar eine ähnliche Warnung herausgegeben. Und seit dem Tod einer 23-jährigen Studentin, die im Dezember in Neu Delhi vergewaltigt wurde, diskutiert ganz Indien über die Gewalt gegen Frauen.

Waren die Schweizer also leichtsinnig? Uma Shankar Gupta, Innenminister von Madhya Pradesh, hat diesen Vorwurf erhoben. Wer in so einer abgelegenen Gegend, etwa 70 Kilometer von der nächsten größeren Stadt entfernt, übernachten wolle, müsse die Polizei informieren, sagte er dem Fernsehsender NDTV. Das seien die Regeln, die Schweizer hätten sie missachtet. 'Trotzdem', so der Minister, 'sollte ein solcher Vorfall nicht passieren und wir überlegen, was wir tun können, um Reisende aus dem Ausland besser zu beschützen'. Das indische Tourismusministerium meldete für 2011 6,3 Millionen Touristen und ein Wachstum von fast 9 Prozent. Millionen Jobs hängen an den Urlaubern.

Inzwischen hat die indische Polizei sechs mutmaßliche Täter festgenommen und dem Richter vorgeführt. Es sind Kleinbauern, die zwischen 19 und 25 Jahren alt sind. Nach Angaben der Polizei gehören sie zu einer lokalen Bande Krimineller. Das Gericht habe angeordnet, dass die Männer zunächst bis diesen Dienstag in Gewahrsam blieben, sagte ein Polizeisprecher.

Die Schweizer Botschaft dankte der Polizei von Madhya Pradesh für die Kooperation und kündigte an, die 39-jährige Schweizerin und ihr Ehemann würden bis auf Weiteres in Neu Delhi bleiben. Sie seien medizinisch versorgt worden und stünden für weitere Ermittlungen und die Identifikation der Täter zur Verfügung.

Indische Zeitungen bezeichnen die Region Madhya Pradesh unterdessen als 'Albtraum für Touristen'. Immer wieder seien dort Touristinnen überfallen und sexuell belästigt worden, berichtet die Hindustan Times. Die Gegend ist ländlich, es gibt wenig Polizei und Straßen, die nur selten befahren werden - ein Hochrisikogebiet für Reisende, folgert die Zeitung. Die indische Nachrichtenseite Firstpost fragt gar: 'Warum sollte eine Frau unter solchen erschreckenden Umständen nach Indien reisen?'

Experten sind mit solchen Einschätzungen vorsichtig. Waseem Hussain, der von Zürich aus europäische Firmen bei Geschäften in Indien berät und selbst aus dem Land stammt, sagt, man könne weiterhin 'gut und gern durch Indien reisen - auch als Frau.' Urlauber sollten sich aber genau überlegen, wie sie auftreten. Dezente, lange Kleidung etwa sei wichtig. Wer sich außerhalb der Infrastruktur bewege, etwa in der Wildnis zelte, 'einfach weil es grad so schön ist', handle leichtsinnig. In ländlichen Regionen hätten die Menschen oft kaum Kontakt zu westlichen Touristen. 'Weiße Frauen kennen sie nur aus Hollywoodfilmen, in denen Sexualität gleich Freizügigkeit ist' sagt Hussain. Hinzu komme der Männerüberschuss durch gezielte Abtreibungen von Mädchen sowie eine Erziehung, die Männern beibringt, dass sie sich 'in der Ehe nehmen dürfen, was sie wollen' wie Hussain es ausdrückt.

Fremde Spiritualität und traumhafte Landschaften neben Großstädten, eine wachsende IT-Industrie neben Massenarmut: Tourismusexpertin Thimm betont, wie vielfältig Indien ist. Auch die Sicherheitsstandards lägen weit auseinander. An viele Orte könne man weiterhin bedenkenlos reisen. Dennoch sei der brutale Angriff auf die Schweizer 'eine völlige neue Dimension der Gewalt.' Er könnte das Bild Indiens in der Welt verändern.

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