Wenn Reichtum nicht mehr in Kamelherden gemessen wird: Ein neues Buch beschäftigt sich mit Flüchtlingslagern und ihrer Bedeutung für sozialen Wandel
Fünfunddreißig Millionen Menschen leben heute außerhalb ihrer Heimat, weil sie oder ihre Vorfahren fliehen mussten. Man nennt sie Migranten, Vertriebene, Exilanten. Die Hälfte dieser Menschen lebt in provisorischen Lagern, an Orten, die sie eines Tages hoffen verlassen zu können. Allerdings hoffen viele Familien darauf bereits in dritter oder vierter Generation. In den palästinensischen Flüchtlingslagern in Jordanien, in den somalischen Camps in Nordkenia - jeden Tag kommen Kinder zur Welt, deren Eltern die Hoffnung aufgegeben haben, sie in ihrer Heimat zur Welt zu bringen.
Viele Flüchtlingslager verlieren ihren provisorischen Charakter und werden zu Orten, die zwar nicht Stadt heißen, aber nach den Gesetzen einer wilden Urbanität funktionieren. Ihre Schulen und Krankenhäuser, ihre Kanalisationssysteme, Kinosäle, Friedhöfe, Straßenkreuzungen, ihre Parkplätze und Müllhalden prägen vorher unbewohnte Gegenden, als hätten sie diese Gegenden nicht in Beschlag genommen, sondern wären aus der Erde gewachsen.
Flüchtlingslager an der Grenze zwischen Mali und Niger
'From Camp to City', ein von dem Architekten Manuel Herz herausgegebenes und im Rahmen eines Forschungsprojekts an der ETH entstandenes Buch (Lars Müller Publishers), untersucht genau das: die Architektur von Flüchtlingslagern. Die Autoren fragen sich: 'Ist es legitim, ein urbanes Rechercheprojekt über Flüchtlingslager durchzuführen? ( . . . ) Ist es nicht beinahe respektlos, urbane Eigenschaften zu untersuchen, wenn es eigentlich um das Schützen und Retten von Menschenleben geht?'
Natürlich ist es da nicht. Aberdie Autoren empfinden dennoch das Bedürfnis, sich zu rechtfertigen. Sie zitieren etwa den italienischen Philosophen Giorgio Agamben: 'Heute bildet nicht die Stadt das fundamentale biopolitische Paradigma des Westens, sondern das Lager. Das Lager ist ein Raum, der geöffnet wird, wenn der Ausnahmezustand zur Regel wird. Im Lager bekommt der Ausnahmezustand, der ursprünglich eine vorübergehende Aufhebung des Rechtsgrundsatzes bedeutete, eine permanente räumliche Gestaltung.'
Die Autoren listen drei gängige Motive auf, die unsere Wahrnehmung von Camps durchziehen. Lager seien humanitäre Stätten, an denen man Menschenleben rette. Lager seien Kontrollräume, in denen allerlei Institutionen allerlei Aspekte des Flüchtlingsalltags bestimmten. Und: Lager seien Orte des Elends. Die Autoren erlauben sich eine 'alternative Lesart': das Lager als 'Motor der Urbanisierung.'
Das Buch greift eine geografische Region heraus, die Westsahara, und zeichnet in Detail nach, wie ein Volk seit fast vier Jahrzehnten auf der Flucht lebt und sich dabei weiterentwickelt. Die Sahrawis sind eine Gruppe nomadischer Stämme aus dem berberischen Kulturkreis. Sie leben seit mehr als tausend Jahren in Westafrika, auf einem Küstenstreifen zwischen Marokko und Mauretanien, wo die Sahara auf den Atlantik trifft. Im 19. Jahrhundert kamen erst Kolonisatoren aus Spanien, und das Land hieß Spanisch-Sahara. 1975 erkämpften Rebellen der Bewegung Polisario die Unabhängigkeit von Spanien, aber kurz danach besetzte Marokko den Küstenstreifen. Die meisten Sahrawis leben seitdem in Flüchtlingslagern im Westen Algeriens und in dem Teil des Landes, den Polisario zurückerobern konnte.
Die Lager heißen Rabouni, Smara oder El Aaiún, in jedem leben zwischen 15000 und 60000 Menschen. Die meisten von ihnen wohnen nicht mehr in Zelten, sondern in Häusern aus Lehm oder Ziegelstein. Weitgehend ohne Unterstützung der UN haben sich die Sahrawis Krankenhäuser und Schulen gebaut, Fußballfelder und Theaterbühnen - etwas, was die Nomaden vorher nicht hatten. 'Die Lager wurden zu einem Raum, in dem nation building gelernt und umgesetzt werden kann', heißt es in dem Buch. Polisario, eine nationalistische Organisation mit sozialistischen Wurzeln, setzt in den Lagern ihre Gesellschaftsvision um, in der Frauen gleichberechtigt sind und Reichtum nicht mehr in Kamelherden gemessen wird.
Der Staat der Sahrawis heißt SADR, Sahrawi Arabische Demokratische Republik, es gibt einen Präsidenten, einen Premierminister, ein Parlament. Das reich bebilderte Buch zeigt, in welchen Häusern die Bürger dieses Staates leben, wie sie sich fortbewegen, wo sie schlafen und kochen, wo sie beten und Karten spielen, in welchen Gebäuden ihre Minister arbeiten und wo ihre Kinder sich nach der Schule treffen. Diese karge Welt liefert keine Antworten auf Fragen, mit denen sich Stadtsoziologen im Westen beschäftigen, es ist zu weit weg von Gentrifizierung und Gettoisierung. Aber das ist auch gut so.
Fünfunddreißig Millionen Menschen leben heute außerhalb ihrer Heimat, weil sie oder ihre Vorfahren fliehen mussten. Man nennt sie Migranten, Vertriebene, Exilanten. Die Hälfte dieser Menschen lebt in provisorischen Lagern, an Orten, die sie eines Tages hoffen verlassen zu können. Allerdings hoffen viele Familien darauf bereits in dritter oder vierter Generation. In den palästinensischen Flüchtlingslagern in Jordanien, in den somalischen Camps in Nordkenia - jeden Tag kommen Kinder zur Welt, deren Eltern die Hoffnung aufgegeben haben, sie in ihrer Heimat zur Welt zu bringen.
Viele Flüchtlingslager verlieren ihren provisorischen Charakter und werden zu Orten, die zwar nicht Stadt heißen, aber nach den Gesetzen einer wilden Urbanität funktionieren. Ihre Schulen und Krankenhäuser, ihre Kanalisationssysteme, Kinosäle, Friedhöfe, Straßenkreuzungen, ihre Parkplätze und Müllhalden prägen vorher unbewohnte Gegenden, als hätten sie diese Gegenden nicht in Beschlag genommen, sondern wären aus der Erde gewachsen.
Flüchtlingslager an der Grenze zwischen Mali und Niger
'From Camp to City', ein von dem Architekten Manuel Herz herausgegebenes und im Rahmen eines Forschungsprojekts an der ETH entstandenes Buch (Lars Müller Publishers), untersucht genau das: die Architektur von Flüchtlingslagern. Die Autoren fragen sich: 'Ist es legitim, ein urbanes Rechercheprojekt über Flüchtlingslager durchzuführen? ( . . . ) Ist es nicht beinahe respektlos, urbane Eigenschaften zu untersuchen, wenn es eigentlich um das Schützen und Retten von Menschenleben geht?'
Natürlich ist es da nicht. Aberdie Autoren empfinden dennoch das Bedürfnis, sich zu rechtfertigen. Sie zitieren etwa den italienischen Philosophen Giorgio Agamben: 'Heute bildet nicht die Stadt das fundamentale biopolitische Paradigma des Westens, sondern das Lager. Das Lager ist ein Raum, der geöffnet wird, wenn der Ausnahmezustand zur Regel wird. Im Lager bekommt der Ausnahmezustand, der ursprünglich eine vorübergehende Aufhebung des Rechtsgrundsatzes bedeutete, eine permanente räumliche Gestaltung.'
Die Autoren listen drei gängige Motive auf, die unsere Wahrnehmung von Camps durchziehen. Lager seien humanitäre Stätten, an denen man Menschenleben rette. Lager seien Kontrollräume, in denen allerlei Institutionen allerlei Aspekte des Flüchtlingsalltags bestimmten. Und: Lager seien Orte des Elends. Die Autoren erlauben sich eine 'alternative Lesart': das Lager als 'Motor der Urbanisierung.'
Das Buch greift eine geografische Region heraus, die Westsahara, und zeichnet in Detail nach, wie ein Volk seit fast vier Jahrzehnten auf der Flucht lebt und sich dabei weiterentwickelt. Die Sahrawis sind eine Gruppe nomadischer Stämme aus dem berberischen Kulturkreis. Sie leben seit mehr als tausend Jahren in Westafrika, auf einem Küstenstreifen zwischen Marokko und Mauretanien, wo die Sahara auf den Atlantik trifft. Im 19. Jahrhundert kamen erst Kolonisatoren aus Spanien, und das Land hieß Spanisch-Sahara. 1975 erkämpften Rebellen der Bewegung Polisario die Unabhängigkeit von Spanien, aber kurz danach besetzte Marokko den Küstenstreifen. Die meisten Sahrawis leben seitdem in Flüchtlingslagern im Westen Algeriens und in dem Teil des Landes, den Polisario zurückerobern konnte.
Die Lager heißen Rabouni, Smara oder El Aaiún, in jedem leben zwischen 15000 und 60000 Menschen. Die meisten von ihnen wohnen nicht mehr in Zelten, sondern in Häusern aus Lehm oder Ziegelstein. Weitgehend ohne Unterstützung der UN haben sich die Sahrawis Krankenhäuser und Schulen gebaut, Fußballfelder und Theaterbühnen - etwas, was die Nomaden vorher nicht hatten. 'Die Lager wurden zu einem Raum, in dem nation building gelernt und umgesetzt werden kann', heißt es in dem Buch. Polisario, eine nationalistische Organisation mit sozialistischen Wurzeln, setzt in den Lagern ihre Gesellschaftsvision um, in der Frauen gleichberechtigt sind und Reichtum nicht mehr in Kamelherden gemessen wird.
Der Staat der Sahrawis heißt SADR, Sahrawi Arabische Demokratische Republik, es gibt einen Präsidenten, einen Premierminister, ein Parlament. Das reich bebilderte Buch zeigt, in welchen Häusern die Bürger dieses Staates leben, wie sie sich fortbewegen, wo sie schlafen und kochen, wo sie beten und Karten spielen, in welchen Gebäuden ihre Minister arbeiten und wo ihre Kinder sich nach der Schule treffen. Diese karge Welt liefert keine Antworten auf Fragen, mit denen sich Stadtsoziologen im Westen beschäftigen, es ist zu weit weg von Gentrifizierung und Gettoisierung. Aber das ist auch gut so.