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Diktatur der Perfektion

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Bisher analysierte die Internet-Kritik Risiken und Folgen - jetzt greift sie die digitale Ideologie an


Wer das Internet kritisiert, ist ein Kulturpessimist. Zumindest muss er sich als solcher beschimpfen lassen, und es ist nicht leicht, diesen Vorwurf zu entkräften. Zum einen, weil die digitale Infrastruktur eine allgegenwärtige Tatsache des Lebens im 21. Jahrhundert ist. Natürlich wird niemand die technologische Entwicklung aufhalten oder gar rückgängig machen. Zum anderen gelten digitale Technologien als Beschleuniger unzähliger positiver Entwicklungen, egal ob es die politischen Befreiungsbewegungen des arabischen Frühlings, der Anstieg des globalen Lebensstandards, oder die Optimierung des Gesundheitswesens, der Bildung und des Handels sind. Die Kehrseiten digitaler Technologie gelten als vergleichsweise harmlos. Das Internet produziert ja weder Treibhausgase, noch radioaktiven Abfall.



Der Mangel an kritischen Stimmen hat aber vor allem einen intellektuellen Grund, denn die Kritik am Internet hatte bisher einen Schwachpunkt. Fast alle Texte beschränkten sich auf eine Analyse der Risiken und Nebenwirkungen. Ein Großteil dieser Abhandlungen waren wissenschaftlich fundierte Grundlagentexte. Nicholas Carrs 'The Shallows' und Frank Schirrmachers 'Payback' führten den Beweis für den intellektuellen Sinkflug der digitalisierten Gesellschaft mit den Erkenntnissen der Hirnforschung. Jaron Laniers Essay 'Digital Maoism' untersuchte die destruktive Macht der digitalen Masse mit dem Furor der Politikwissenschaft. Sherry Turkle erforschte in ihrem Buch 'Alone Together' die Vereinsamung in den sozialen Netzwerken mit Hilfe der Soziologie. Jonathan Zittrain erklärte die gesellschaftlichen Gefahren in 'The Future of the Internet' mittels technischer Details.

Jede dieser Kritiken konnte man aber gerade deswegen so leicht als Kulturpessimismus entkräften, weil die digitalen Technologien trotz der rasanten Fortschritte immer noch am Anfang stehen. Für jedes Problem, so die vorherrschende Meinung, wird es eine Lösung geben. Genau an diesem Punkt setzt nun der Kulturkritiker Evgeny Morozov mit seinem neuen Buch an.

Der Titel 'To Save Everything, Click Here: The Folly of Technological Solutionism' (Um alles zu retten, klicken Sie hier: der Aberwitz des technologischen Lösungsdogmas) klingt viel zu burschikos. Morozov liefert mit seinem Buch nämlich die lange überfällige Ideologiekritik der digitalen Kultur. Sein 'Solutionism' ist eine Diktatur der Perfektion, die er im Zentrum der digitalen Kultur, dem Silicon Valley, verortet. Und es gibt wahrscheinlich keinen Autor, der sich dafür so eignet wie er. Denn mindestens so wichtig, wie seine akademische Brillanz und sein scharfer Intellekt, ist seine Biografie.

Seine Karriere ist zunächst einmal beeindruckend. 1984 im weißrussischen Salihorsk geboren, ging er nach der Schule mit einem Stipendium von George Soros Open Society Institute an die American University in Bulgaria. Nach einer kurzen Zeit in Berlin zog er in die USA, wo er zuerst an der Georgetown University arbeitete, bevor er 2010 als Fellow der New America Foundation an die Stanford University ging. Neben seiner akademischen Arbeit schrieb er für Zeitungen und Zeitschriften wie New York Times, The Economist, Wall Street Journal und das London Review of Books.

Der Schlüssel zu seiner Arbeit sind jedoch nicht nur seine Bildung und seine frühen Erfolge, sondern die Tatsache, dass er nach einer Kindheit und Jugend im Totalitarismus der Sowjetunion und Lukaschenkos Weißrussland im Zentrum der digitalen Euphorie gelandet ist. Kaum ein Vertreter der digitalen Elite (und zu der zählt er trotz seines jugendlichen Alters und seiner scharfen Kritik seit nun schon gut vier Jahren) hat einen so zielsicheren Instinkt für die ideologischen und totalitären Strömungen der digitalen Welt. Als Kind einer Welt voller Dogmen, Zwänge und Repressalien versetzen ihn die Allgemeingültigkeits-Ansprüche und Heilsversprechen der digitalen Industrie und ihrer Propheten regelmäßig in publizistische Panikzustände.

Da schleicht sich schon mal ein paranoider Gedankengang ein. Wenn er in seinem Buch zum Beispiel von neuen Computersystemen erzählt, die das Kochen mit Hilfe von Kameras und Datenbanken perfektionieren. Das bringe die Gefahr, dass jedes Schnitzelbraten einen Datensatz erzeugt, den zunächst die Industrie für ihre Zwecke nutzt, den aber auch Versicherungsgesellschaften auswerten könnten, um dann die Krankenversichungsraten den Essgewohnheiten des Schnitzelbraters anzupassen.

Mit solchen Szenarien schließt er an sein erstes Buch 'The Net Delusion' an. Da warnte er im vergangenen Jahr, dass jede Diktatur das Internet noch viel effizienter für die Unterdrückung nutzen kann, als jede Volksbewegung für die Befreiung. Seine Kritik an den leeren Versprechungen von den digitalen Medien als Motor der demokratischen Befreiung war umfassend und prophetisch. Und auch wenn sie noch nach dem bekannten Muster der Risiko- und Nebenwirkungs-Analyse funktionierte, zeigten ihm die Reaktionen erstmals, wie undifferenziert der Optimismus der digitalen Welt sein konnte.

'To Save Everything, Click Here' benennt nun die ideologischen Verhärtungen der digitalen Kultur mit ungewohnter Schärfe. Mit seinem 'Solutionism' definiert Morozov den Drang des Silicone Valley, Probleme zu finden oder zu erfinden, und dann die sauberen technologischen Lösungen dafür zu liefern. 'Eine App für jedes Problem'. Das beschreibt er als ähnlich gefährliche Zwangsjacke, wie die Versuche des 20. Jahrhunderts, den Unzulänglichkeiten der Menschheit mit Planungsmodellen beizukommen. Und er sieht sich da in einer langen Tradition der Kritik.

'Auch wenn das Wort ,Solutionism" noch nicht verwendet wurde, haben viele wichtige Denker seine Defizite schon angesprochen', schreibt er. 'Ich denke da besonders an Ivan Illichs Protest gegen die hocheffizienten aber unmenschlichen Systeme professioneller Bildung und Medizin, Jane Jacobs Angriffe gegen die Arroganz der Städteplaner, Michael Oakeshotts Rebellion gegen Rationalisten aller Art, Hans Jonas Ungeduld mit den kalten Bequemlichkeiten der Kybernetik.'

Schlagworte wie 'Openness' (die inzwischen obligatorische Transparenz), 'Disruption' (die Zerstörung von Konventionen), 'Social' (die Pflicht der Vernetzung) und 'Quantified Self' (die ständige elektronische Selbstbeobachtung) sind für ihn nicht mehr als hohle Formeln einer Industrie, die nichts anderes versucht, als das Leben, die Gesellschaft und die Institutionen mit ihren Mitteln zu homogenisieren. Diese Homogenisierung beruhe aber auf einem perfektionistischen Weltbild, das die Realität der Utopie opfern will. Und wie in jeder Ideologie, duldet der 'Solutionism' keine Abweichler. Das Unfertige, Unperfekte, das Zufällige und Unkontrollierbare, das Kultur und Politik bestimmt, hat keinen Platz mehr. Doch wer will sich schon vorwerfen lassen, dass er nicht daran interessiert ist, die Welt zu verbessern?

Was Morozov kritisiert, ist natürlich im Kern die Methodik der Wissenschaft und des Ingenieurwesens. Die Mechanismen aber, die Fortschritt und Perfektionswille in der digitalen Kultur zum ideologischen Zwang machen, kennt bisher niemand. Da liefert Morozov mit seinem Buch überfällige Erkenntnisse. Die Folgen der enormen Effizienz, die digitale Technologie schafft, kann man vielleicht schon beobachten. Wie man sie kanalisiert, muss nun die Debatte klären, die er damit anstößt.

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