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Kommentar: Bildungskatzenjammer

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Das Gymnasium ist die neue 'Hauptschule' - in Baden-Württemberg geht sogar die Furcht vor dem Ende des Gymnasiums um.


Mehr als 1000 Jahre Bildungstradition - von heute auf morgen beerdigt. So ist es aus den erbosten Äußerungen herauszulesen. Selbst die "Mittelmäßigen" strebten danach, sich eine möglichst hohe Geistesbildung zu verschaffen, um es den "Talentvollen" gleichzutun, warnt ein Pädagoge: Je gebildeter der Mittelstand werde, desto mehr ziehe er die Bildung hinab.

Anlass für dieses Lamento war das Erstarken von Realgymnasien mit naturwissenschaftlichem Profil und modernen Sprachen, auf Kosten von Latein und Griechisch. Die preußische Schulkonferenz räumte den Absolventen der Realgymnasien im Jahr 1900 den Hochschulzugang ein. Gut hundert Jahre später ist das Abendland ob der damaligen Reform nicht untergegangen. Aber das, was man heute unter klassischer höherer Bildung versteht, ist erneut im Fokus. Die Furcht vor dem Ende des Gymnasiums geht um.



Keine Landesregierung will das Gymnasium bisher abschaffen. In Baden-Württemberg fürchten manche Eltern trotzdem das Ende des Gymnasiums.

Das dreigliedrige Bildungssystem aus Hauptschule, Realschule und Gymnasium ist weitgehend an sein Ende gelangt. In vielen Bundesländern gibt es nur noch eine einzige Schulform neben den Gymnasien; und manche Regierungen experimentieren zudem mit Gemeinschaftsschulen, an denen Kinder alle Abschlüsse machen können und auch bis zur Oberstufe nicht aufgeteilt werden. Etwa in Baden-Württemberg: Dort rät eine Kommission nun zum einheitlichen Lehramtsstudium für alle weiterführenden Schulformen, auf dem Niveau der bisherigen Gymnasialstandards. Bildungskatzenjammer stört nun die österliche Ferienruhe - die Opposition poltert, Eltern sind in Sorge, konservative Lehrerverbände wähnen die "Zerstörung" des Gymnasiums. Die grün-rote Regierung, heißt es, wolle "die Fachlichkeit der gymnasialen Lehrerbildung aushebeln", um alle Gymnasien mit Gemeinschaftsschulen zu verschmelzen.

Es wäre zu simpel, den Widerstand als dünkelhaftes Spießbürgertum zu deuten, wonach der vermeintlich minderbegabte Pöbel die vermeintlich besseren Klassenkameraden ausbremst (wenngleich es diese Haltung sehr wohl gibt). Die Sorge ist ernst zu nehmen, dass durch eine Lehramtsreform die gymnasialen Prinzipien schwinden. Die Debatte wirft eine legitime Frage auf: Welche Zukunft hat das Gymnasium? Ohne Pathos sollte man sich dazu erst einmal fragen: Was sind Gymnasien heute? Die Schulform erhebt den Anspruch, ein "Wissenschaftspropädeutikum" zu sein; also auf akademische Bildung vorzubereiten, mit Vermittlung von Fachwissen sowie Persönlichkeitsreife. Manche Kritiker, die nun in Rage geraten, haben ein Bild im Kopf, auf dem die Schüler Sallust rezitierend durch ehrwürdige Flure flanieren. Gymnasien sind heute aber Effizienzanstalten, sie sollen mehr oder weniger auf den Beruf vorbereiten, Altgriechisch lernt jeder Zweihundertste. Mit dem Tempo der achtjährigen Schulzeit geraten ganze historische Epochen im Unterricht zur Randnotiz, für kulturelle Bildung wie Theaterspiel findet sich wenig Zeit. Deutsch wurde in manchen Ländern auf drei Stunden gekürzt, neulich haben Professoren Defizite bei der Rechtschreibung von Abiturienten beklagt, viele könnten "kaum einen Gedanken im Kern erfassen und Kritik daran üben".

Die Schülerschaft ist so heterogen wie nie - kein Wunder bei Übertrittsquoten von 40 Prozent und mehr. Das Gymnasium ist, im Wortsinn, die neue "Hauptschule"; und damit keine Bildungsoase, sondern ein Ort, wo sich gesellschaftliche Probleme wiederfinden. Lehrer haben es mit einer Klientel zu tun, die früher am Gymnasium nichts verloren hatte. Wieso sollte man also nicht erwägen, in der Pädagogenausbildung auf "Alleskönner" zu setzen, die nicht nur das strebsame Bildungsbürgertum im Blick haben, sondern etwa problematische Elternhäuser; und unterschiedliche Lerngeschwindigkeiten? Das würde das Gymnasium nicht eliminieren, sondern es für die Zukunft aufstellen.

Keine Regierung will bisher das Gymnasium abschaffen, auch in Baden-Württemberg kommt jede Gemeinschaftsschule auf Antrag der Kommune zustande. Die neuen Schulen sind zwar einerseits politisch gewollt, um die frühe und ungerechte Trennung von Kindern zu verhindern. Da ist aber andererseits ein Akteur im Bildungswesen, der mächtiger ist als jeder Minister: die Demografie. Angesichts sinkender Schülerzahlen sind Komplettfusionen auf dem Land oft der letzte Weg, um Schulen im Heimatort zu erhalten. Die Option der einheitlichen Lehrerbildung zu prüfen, ist aus zwei Gründen klug. Erstens: Sie baut vor für den Tag X - an dem, falls der negative Geburtentrend anhält, auch den Gymnasien die nötigen Schüler fehlen könnten. Zweitens: Sie reagiert eben auf die Bedürfnisse eines Gymnasiums, das seinen sozialen und intellektuellen Nimbus immer mehr einbüßt.

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