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Es brodelt in Europa

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Die UN-Arbeitsorganisation ILO sieht in den Krisenländern des Kontinents ein wachsendes Risiko für soziale Unruhen.

Kürzlich traf es Soraya Sáenz de Santamaría, die Stellvertreterin des spanischen Ministerpräsidenten Mariano Rajoy und mächtigste Frau in der Regierung. Vor ihrem Haus in Madrid versammelten sich an die zweihundert Menschen, denen wegen der Schuldenkrise der Verlust ihrer Wohnung droht. Sie riefen: 'Die Zwangsräumungen sind Mord!', womit die Demonstranten auf die Suizide anspielten, die zahlungsfähige Schuldner in den letzten Monaten in Spanien verübt hatten. Escrache nennt man in Spanien diese Methode, missliebigen Politikern direkt auf die Pelle zu rücken und sie an den Pranger zu stellen. Sie kommt aus Argentinien und ist auch in der Protestbewegung umstritten, greift aber immer mehr um sich. Sogar Gemeinderäte mussten schon von der Polizei zum Sitzungssaal eskortiert werden.


Beim ILO Meeting in Oslo am Montag

Es ist das erste Anzeichen aggressiven Protestes in Spanien, der demokratische Spielregeln nach Meinung vieler Kommentatoren hinter sich lässt - und ein mögliches Anzeichen, dass eine Studie, welche die UN-Arbeitsorganisation (ILO) am Montag in Genf veröffentlichte, ihre Berechtigung haben könnte: Die ILO stellt in ihrem Arbeitsmarktbericht 2012 ein wachsendes Risiko sozialer Unruhen in Europas Krisenländern wie Zypern, Griechenland, Portugal, Spanien, Slowenien und Italien fest, aber auch in Tschechien. In Deutschland, Finnland, der Slowakei und Belgien hingegen sank das Risiko laut der Studie.

Dieses erhöhte Risiko hat die ILO anhand eines Indikators errechnet. Er setzt sich zusammen aus Faktoren, die über Umfragen ermittelt wurden. Zu Grunde liegen Erhebungen, die das Meinungsforschungsinstitut Gallup anfertigt. Darin werden in mehr als hundert Ländern je tausend Bürger einen Monat lang täglich in direkten Interviews danach befragt, wie sie ihr Leben einschätzen. Sie machen Angaben, ob sie ihrer Regierung vertrauen, ob ihr Lebensstandard sich verbessert oder verschlechtert hat, wie sie die Wirtschaft und den Arbeitsmarkt sehen und wie es um die Demokratie in ihrem Land bestellt ist.

Die ILO geht davon aus, dass negative Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt und ungleich verteiltes Einkommen im Land das Risiko sozialer Unruhen erheblich verstärken. Schwankungen beim Wirtschaftswachstum allein seien dafür noch nicht ausreichend. Laut dem Indikator ist dieses Risiko in der gesamten EU 2012 gegenüber dem Vorjahr um zwölf Prozentpunkte gestiegen, während es in anderen Weltgegenden, etwa dem prosperierenden Lateinamerika oder in Ostasien, abnehme. Die Steigerung in der EU sei im Vergleich mit anderen Teilen des Globus die gravierendste. Zurückzuführen ist sie vor allen Dingen auf die starke Unzufriedenheit im Süden des Kontinents.

Die ILO macht dafür vor allen Dingen die Arbeitslosigkeit verantwortlich. Sie hebt hervor, dass die Beschäftigung in nur fünf der 27 EU-Mitgliedstaaten, darunter Deutschland, wieder über dem Niveau von vor der Finanzkrise liege. Deutschland sei das einzige Land, in dem die Jugendarbeitslosigkeit seit 2008 gesunken sei. Deshalb sei auch die Wahrscheinlichkeit von Unruhen gering. In Griechenland, Portugal und Spanien hingegen sei die Anzahl der Beschäftigten in den vergangenen zwei Jahren um mehr als drei Prozentpunkte gesunken. Insgesamt sind laut ILO in der EU 26Millionen Menschen arbeitslos - 10,2Millionen mehr als 2008. Die Zahl der Langzeitarbeitslosen liege bei elf Millionen, in etwa doppelt so viele wie 2008. Viele hätten die Jobsuche längst aufgegeben.

Die UN-Organisation gibt dazu eine politische Bewertung ab: Sie macht die Sparpolitik, die den Krisenländern verordnet wurde, für den Anstieg der Arbeitslosigkeit verantwortlich. Bemühungen um die Bewältigung der Krisenfolgen müssten viel stärker auf die Schaffung von Jobs als allein auf Spar- oder ziellose Strukturmaßnahmen gerichtet sein, forderte die ILO kurz vor ihrer Europäischen Regionalkonferenz in Oslo. Konkret fordert sie etwa eine Beschäftigungsgarantie für junge Leute. Außerdem müsse man in den einzelnen Ländern die strukturellen Probleme angehen, die hinter der Krise stünden. Auch die systemischen Defizite des Finanzmarkts seien noch nicht ausreichend gelöst worden.

Die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) warf der ILO vor, die Reformbemühungen in Krisenstaaten mies zu machen. Sie diskreditiere 'einseitig die in den Krisenländern angestoßenen Strukturreformen für solide öffentliche Finanzen und eine Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit', heißt es in einer empörten Reaktion des BDA auf den ILO-Bericht. Strukturreformen benötigten Zeit, um ihre volle Wirkung zu entfalten, erklärte der BDA, sie seien jedoch der richtige Ansatz.

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