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Fromme Schurken

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Der Starpianist Fazil Say ist wegen Blasphemie zu zehn Monaten Gefängnis verurteilt worden - das Urteil spaltet die Türkei.


Fazil Say ist der berühmteste Pianist der Türkei. Am Montag wurde er zu zehn Monaten Haft auf Bewährung verurteilt. Ein Istanbuler Gericht sah es als erwiesen an, dass Say die religiösen Werte eines Teils der türkischen Bevölkerung verletzt habe.

Der 43-jährige Say gibt in dieser Woche mehrere Konzerte in Deutschland, zu dem Urteil äußerte er sich knapp auf Facebook: 'Ich bin traurig im Namen meiner Heimat. (. . .) Dass ich verurteilt wurde, obwohl ich unschuldig bin, ist weniger für mich besorgniserregend, sondern vielmehr für die Meinungs- und Glaubensfreiheit in der Türkei.'



Mit seinen Beiträgen im Internet soll Starpianist Fazil Say die religiösen Werte eines Teils der türkischen Bevölkerung verletzt haben - so sah es das Gericht, dass ihn dafür zu zehn Monaten Gefängnis verurteilte.

Im vergangenen Jahr hatte Say auf Twitter ein Gedicht verbreitet, das dem mittelalterlichen persischen Dichter Omar Khayyam zugeschrieben wird: 'Du behauptest, durch die Bäche wird Wein fließen - ist das Paradies etwa eine Schänke? Du sagst, jeder Gläubige wird zwei Jungfrauen bekommen - ist das Paradies etwa ein Bordell?' Außerdem hatte Say getweetet: 'Überall wo es Schwätzer, Schurken, Sensationsgierige, Diebe, Blödmänner gibt, sind sie alle furchtbar fromm.'

Im Internet löste das Urteil eine heftige Diskussion über die Meinungsfreiheit aus. 'Ich will nicht Teil einer solchen muslimischen Gesellschaft sein, ab sofort bin ich Atheist', schrieb ein Leser der Zeitung Hürriyet. Ein anderer konterte: 'Wenn Atheisten schimpfen, ist das also Freiheit, oder was? Wenn du nicht glaubst, dann glaub halt nicht, aber halt doch die Klappe.'

Der Schuldspruch gegen Fazil Say dürfte seine Kläger zu weiteren Prozessen ermutigen. Allein der Bauingenieur Ali Emre Bukagili hat mehr als Hundert 'Islambeleidiger' verklagt. Am Montag verurteilte ein anderes Istanbuler Gericht einen 29 Jahre alten Türken namens Abdulkerim U. zu sechs Monaten Haft - nach demselben Paragrafen 216 des Strafesetzbuchs, aber ohne Bewährung und ohne öffentliches Aufsehen. Er hatte laut Anklage 'den Propheten Muhammad beleidigt', auf Facebook.

Die Europäische Kommission teilte am Montag mit, sie habe den Richterspruch gegen den weltberühmten Musiker Say 'mit Besorgnis' zur Kenntnis genommen. 'Die Kommission betont, dass die Türkei die Meinungsfreiheit vollkommen respektieren muss gemäß der Europäischen Konvention für Menschenrechte sowie der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte.'

'Nimm dein Klavier und hau ab, spiel im Europäischen Parlament', empfiehl ein Internetkommentator dem Pianisten Say. 'Hör auf vor den Augen dieses Volkes herumzulaufen und die Sicht zu versauen.'

Die gallige Debatte erinnert an die Kontroverse um Recep Tayyip Erdogans Verurteilung aus dem Jahr 1998. Der heutige Ministerpräsident war damals Bürgermeister von Istanbul und hatte auf einer Anhängerversammlung ein religiös klingendes Gedicht vorgelesen: 'Die Minaretten sind unsere Bajonetten, die Kuppeln unsere Helme, die Moscheen unsere Kasernen.' Die Richter deuteten das als eine Beleidigung der zweiten heiligen Instanz neben Allah, welche die Türkei seit Jahrzehnten spaltet: Atatürk. Der eloquente Politiker Erdogan musste für fünf Monate ins Gefängnis.

Merkwürdig ist, dass sich sowohl Allah-Eiferer wie Atatürk-Eiferer heute auf Schriftsteller berufen, die zwar unter den ideologischen Grabenkämpfen gelitten, aber doch immer versucht hatten, Allah und Atatürk, Ost und West, Glaube und Vernunft unter einen Hut (oder Fez) zu bringen. Säkularisten zitieren mit Vorliebe den kommunistischen Dichter Nazim Hikmet, der 1963 im Moskauer Exil starb.

Verteidiger des Propheten bemühen gerne den konservativen Sprachzauberer Peyami Safa (1899-1961), wenn es darum geht vermeintlich schädliche Einflüsse aus dem Westen abzuwehren. Dabei war Safa ein Dichter des Zweifelns, ein Suchender. Einer, der kurz vor seinem Tod schrieb: 'Mensch, tauch in dich selbst ab, laufe dir selbst hinterher, finde dich selbst, deinen eigenen Geist, finde, liebe, erkenne, gedenke, sieh, siehe Allah in dir. Kehr zu dir selbst zurück, schau dir dich selbst an, komme zu dir.'

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