Quantcast
Channel: jetzt.de - SZ
Viewing all articles
Browse latest Browse all 3345

Exzess mit System

$
0
0
Die New Yorker Polizei darf jedermann anhalten und durchsuchen. Fast immer trifft es Schwarze und Latinos. Eine US-Bundesrichterin erklärte die Taktik nun für diskriminierend. Wieder einmal ist das Land gespalten

Einige Fragmente aus dem New Yorker Stadtleben:

Am 20. August 2008 steht der schwarze Leroy Downs vor seinem Haus in Staten Island und telefoniert. Zwei Zivilbeamte halten an, sagen, dass er Gras rauche; er solle sich 'verdammt noch mal gegen den Zaun stellen'. Downs erklärt, dass er bloß Suchtberater sei. Die Polizisten tasten ihn ab, ziehen Geldbeutel, Schlüssel und Kekse aus seinen Hosentaschen. Downs verlangt ihre Dienstnummern. Die Beamten lachen und sagen, er könne froh sein, dass sie ihn nicht eingesperrt hätten.

Am Abend des 20. März 2010 ist der 13-jährige Schwarze Devin Almonor in Harlem auf dem Heimweg. Ein Streifenwagen ist unterwegs, weil sich Anwohner über 40 Jugendliche beschwert haben, die sich prügeln und Mülltonnen werfen. Am Straßenrand sehen die Polizisten den jungen Almonor. Ohne ihm auch nur eine Frage zu stellen, drücken sie ihn auf die Motorhaube, legen ihm Handschellen an und durchsuchen ihn. In seinen Hosentaschen finden nur ein Telefon und ein paar Dollar, nehmen ihn aber mit auf die Wache.

David Ourlicht, ein Student mit schwarzen und weißen Vorfahren, geht am Nachmittag des 30. Januar 2008 nördlich von Manhattan nach Hause. In seiner Jacke stecken Geldbeutel, Schlüssel, Telefon, ein dickes Notizbuch. Ein Polizist fragt, wo er hingehe. Ourlicht fragt, warum man ihn aufhalte. Schließlich zeigt Ourlicht seinen Ausweis und verlangt den des Polizisten. Der Polizist sagt, 'jetzt gibt es das volle Programm'. Ourlicht muss sich gegen eine Wand stellen, die Beamten räumen seine Taschen aus. Sie finden nichts.



Die Stop-and-Frisk-Taktik der New Yorker Polizei verstößt laut einer US-Bundesrichterin gegen Grundrechte.

Diese drei Fälle - unter vielen anderen - hat die US-Bundesrichterin Shira Scheindlin in ihrer Entscheidung vom 12. August rekonstruiert. Ihr Ergebnis lautet, dass die 'Stop and Frisk'-Taktik der New Yorker Polizei ('Anhalten und Abtasten'), gegen Grundrechte verstoße, weil sie übermäßig gegen dunkelhäutige Menschen eingesetzt wird. Sie sei diskriminierend und illegal. Die Richterin hat die Taktik nicht unmittelbar verboten, sondern Auflagen angekündigt und mehr Aufsicht verlangt. Linke Kommentatoren haben Scheindlins Mut gepriesen, rechte nennen sie inkompetent und voreingenommen.

Scheindlin stellt eine Taktik in Frage, die als äußerst erfolgreich gilt. Kaum jemand bestreitet, dass die Zahl der Tötungsdelikte und anderer schwerer Straftaten in New York historisch niedrig ist. Die Richterin weist deshalb darauf hin, dass sie nicht über die Effektivität der Taktik befinde; sie konzentriere sich allein auf die Frage, schreibt sie, ob die Polizei im Einklang mit der Verfassung handle.

In der US-Rechtspolitik scheint das Pendel zurückzuschwingen. Politik und Behörden hatten angesichts der Crack-Epidemie und massiver Kriminalität in den Innenstädten der achtziger Jahre vielerorts einen drakonischen 'Law and Order'-Ansatz verfolgt. Schon auf kleine Drogendelikte folgte Haft. Inzwischen aber wachsen Zweifel an der harten Linie. Eine Mehrheit der Amerikaner verlangt, dass weniger weggesperrt wird, allein wegen der Kosten. US-Justizminister Eric Holder hat seine Staatsanwälte aufgefordert, bei Drogendelikten mildere Strafen anzupeilen.

Das jüngste Urteil zeigt, wie demütigend 'Stop and Frisk' auf Betroffene wirkt. Zwar passiert nicht viel, oft ist die Kontrolle nach wenigen Minuten vorbei. Aber die dunkelhäutigen Stadtbewohner, die im Verhältnis öfter aufgegriffen werden als Weiße, fühlen sich kriminalisiert. Selbst wenn sie sich korrekt verhalten, können Polizisten sie jederzeit rüde ansprechen, ihre Hosentaschen durchsuchen und ihnen unlautere Absichten unterstellen.

Der Exzess ist im System angelegt. In den drei geschilderten Fällen folgert die Richterin, dass die Polizei ihre Kompetenzen überschritten habe. Im Fall Leroy Downs, der vor seinem Haus stand, habe es an jedem 'vernünftigen Verdacht' gefehlt. Im Fall des 13-jährigen Devin Almonor habe zwar Unruhe im Viertel geherrscht, Almonor selbst aber habe nichts getan. Selbst wenn er sich verdächtig benommen haben sollte, hätte es genügt, ihn zu befragen, statt Handschellen anzulegen. Und im Fall des Studenten David Ourlicht habe sich schnell herausgestellt, dass das Notizbuch seine Jacke ausbeulte, nicht eine Waffe. Damit hätte die Sache enden müssen.

Meist bleiben Beschwerden folgenlos, es gibt kaum Beweise für die genauen Abläufe. Die Polizisten müssen die Kontrollen kaum protokollieren, kreuzen bloß auf einem Formular an, warum sie Verdacht geschöpft haben, oft vage Kriterien wie 'verstohlene Bewegungen', oder 'verdächtige Ausbeulung' (in der Kleidung).

Die Polizisten stehen unter großem Druck. In Besprechungen mahnen Chefs, dass jeder seinen Fleiß mit möglichst vielen Aufgriffs-Formularen nachweisen müsse, sonst gebe es Fragen von oben. Das spiegelt sich in den Zahlen. Von 2004 bis 2012 'stoppte' die Polizei 4,4 Millionen Personen, wobei sich die Zahl jährlicher Kontrollen in diesem Zeitraum verdoppelt hat. Nur zehn Prozent der Kontrollierten waren weiß. Nur bei einem Bruchteil der Kontrollen fand man Drogen oder Waffen.

Bereits 1999 hatte ein Bericht der New Yorker Justiz Zweifel an 'Stop and Frisk' aufgeworfen, aber Stadtspitze und Polizei haben es beharrlich ignoriert. Scheindlin zitiert sogar leitende Beamte, die sich verächtlich über Bewohner mancher Gegenden äußern. 'Uns gehört das Viertel. Das Viertel gehört nicht denen', sagte ein Chef laut Mitschrift. Viele Kontrollen haben also vor allem mit Statistik und Schikane zu tun. Es ist kein Geheimnis, dass die Polizei bewusst einschüchtert: Die Furcht vor Kontrollen soll junge Männer davon abhalten, Waffen zu tragen. Das ist einerseits gelungen, andererseits aber bringt es ganze Stadtviertel gegen den Staat auf.

Als Gegenbeispiel nennen Experten ausgerechnet Watts, den schwierigen Stadtteil von Los Angeles mit seinen berüchtigten Bandenkriegen. Seit die Polizei dort auf Kooperation setzt, seit sie Bewohnern ihre Arbeit erklärt, seit sie deren Sorgen anhört, seit sie Respekt zeigt, nimmt die Gewalt auf den Straßen ab. Feldversuche zeigen, dass die Zahl schwerer Straftaten sinkt, wenn die Polizei nicht nur konsequent verfolgt, sondern auch als fair wahrgenommen wird. Das New Yorker Modell gilt längst als eines, das Abschreckung über Fairness stellt. Das hat schon deswegen Nachteile, weil die Polizei die Abschreckung aufrechterhalten muss, indem sie immer weiter kontrolliert. Die Richterin vergleicht dies damit, als brenne man ein Haus ab, um die Mäuse loszuwerden.

New Yorks Bürgermeister Michael Bloomberg hat die Richterin Scheindlin jüngst als 'irgendeine Frau' bezeichnet, die 'null Ahnung' von Polizeiarbeit habe. Aus seiner Sicht retten die flächendeckenden Kontrollen Menschenleben, weil Waffen aus dem öffentlichen Raum verschwinden, und sie retten auch das Leben junger Schwarzer und Latinos - die statistisch nicht nur unter den Tätern, sondern auch unter den Opfern stärker vertreten sind als Weiße. Aber Bloombergs Worte müssen nicht die letzten Worte sein. Bloomberg tritt bald ab, und der Wahlkampf um seine Nachfolge beginnt jetzt erst richtig. 'Stop and Frisk' steht nunmehr zur Debatte.

Viewing all articles
Browse latest Browse all 3345