Ein malerisches Städtchen unweit von London, angeschmiegt an die ruhig dahinfließende Themse. Viele Reiche residieren hier, auch der verstorbene Ex-Beatle George Harrison hatte sein Anwesen in Henley-on-Thames, wo jeden Sommer eine traditionsreiche Ruderregatta stattfindet. Dame Stephanie Shirley lebt in einem schicken Apartment in Ufernähe. Ihr Arbeitszimmer ist groß: weißer Teppich, ein gläserner Schreibtisch, moderne Gemälde an den Wänden. Durch das Fenster sieht sie die Schiffe auf dem Fluss – „wenn ich mich auf Zehenspitzen stelle“, sagt die 81-Jährige, die 20 Jahre jünger wirkt.
Das vornehme, gepflegte Henley-on-Thames ist so ziemlich das Gegenteil von dem Ort, an dem die gebürtige Dortmunderin in Großbritannien ankam. Stephanie Shirley – sie wurde 2000 von Prinz Charles zur Dame erhoben – stieg im Juli 1939 aus dem Waggon eines Kindertransport-Zugs an der Liverpool Street Station in London aus. Zusammen mit etwa 1000 anderen jüdischen Kindern. Ihre Eltern hatten sie auf eine zweieinhalbtägige Reise mit dem Zug nach Großbritannien geschickt, um sie vor dem Nazi-Terror zu retten. In ihrer Autobiografie schreibt Shirley, dass sie an einem grauen Juli-Tag ankam und dass die Bahnhofshalle, wo die Flüchtlinge auf ihre britischen Gasteltern warteten, nach ungewaschenen Kindern roch. Sie hieß damals noch Vera Stephanie Buchthal.
Dieses fünfjährige Flüchtlingskind sollte gut 23 Jahre später unter ihrem neuen Namen und als britische Staatsbürgerin eine der bemerkenswertesten Unternehmerkarrieren des Vereinigten Königreichs starten. Eine Karriere, die sie zu einer der reichsten Frauen des Landes machte. Bevor sie den Großteil ihres Vermögens spendete und so zu einer der bekanntesten Philanthropinnen wurde.
Shirley – den Nachnamen nahm sie von ihrem Gatten an – erklärt, ein wichtiger Antrieb für ihr unermüdliches Schaffen sei das Schicksal als Flüchtlingskind, als Überlebende gewesen: „Ich wollte immer beweisen, dass mein Leben es wert war, gerettet zu werden“, sagt sie heute. Ihre Eltern entkamen ebenfalls der Judenverfolgung, allerdings baute Shirley nach der frühen Trennung keine enge Beziehung mehr zu ihnen auf. Auch Deutsch verlernte sie.
Für ihren Aufstieg sucht sie sich ausgerechnet eine der Männer-dominiertesten Branchen der Wirtschaftswelt aus: die Software-Industrie. Sie gründet 1962 an ihrem Esszimmertisch mit sechs Pfund Startkapital und einem Telefonanschluss, den sie sich mit einem Nachbarn teilt, eine Software-Firma, die anfangs nur Frauen als Programmierer beschäftigt. Als das Unternehmen 2007 an einen Rivalen verkauft wird, hat es 8500 Mitarbeiter. Shirley wurde so zur Vorkämpferin für Frauen in der britischen Geschäftswelt. Später widmet sie ihr Engagement und viele ihrer Millionen dem Thema Autismus (siehe Text rechts). Ihr einziges Kind war Autist und verstarb 1998 mit 35 Jahren.
Eine Firma aufbauen, gegen Vorurteile in der Männerwelt der Computerbranche kämpfen – und dann zu Hause ein Kind pflegen, das mit seinen Wutausbrüchen eine Gefahr für sich und andere darstellt: Daran wäre nicht bloß die Ehe der Shirleys fast zerbrochen. In ihrer Autobiografie namens „Let It Go“, also „Lass los“, beschreibt die Managerin, wie sie und ihr Mann Mitte der Siebzigerjahre völlig erschöpft und verzweifelt darüber nachdenken, sich und ihren Sohn umzubringen.
Sie entscheiden sich dagegen – unter anderem, weil ihr Sohn nicht in der Lage war, seine Zustimmung zu so etwas zu geben, und sie nicht für ihn bestimmen wollten. Shirley sagt, damals sei es ungewöhnlich gewesen, dass Mütter arbeiteten, geschweige denn, dass Mütter Chefs waren. „Gerade weil ich arbeitete und Chef war, wollte ich auch für unseren Sohn die beste Mutter sein“, erklärt sie. Daher habe sie sich selbst um ihn gekümmert, statt ihn in ein Heim zu geben. „Das war vielleicht nicht die beste Entscheidung“, sagt sie heute.
Die beständige Überlastung fordert ihren Tribut. 1976 erleidet Shirley Panikattacken und letztlich einen Nervenzusammenbruch, sie liegt über Wochen im Krankenhaus. Die Gründerin zieht daraus Konsequenzen: Ihr Sohn geht nun doch in ein Heim, und sie nimmt von der Firma, die inzwischen 340 Beschäftigte hat, eine mehrmonatige Auszeit.
Nach ihrer Rückkehr gibt sie das Tagesgeschäft an eine andere Managerin ab und konzentriert sich auf Strategie und Innovationen. Außerdem vertritt sie ihr Unternehmen, das zu dem Zeitpunkt unter FInternational firmiert, stärker nach außen; sie engagiert sich in der Berufsvereinigung British Computer Society, deren erster weiblicher Präsident sie später wird, und arbeitet in Regierungskommissionen zum Thema Software mit.
Das Führungsgremium ihrer Firma verlässt sie 1993 mit 60 Jahren, profitiert aber als Großaktionärin vom Börsengang 1996. Und davon, dass im Jahr 2007 Steria, ein französischer Konkurrent, Xansa übernimmt, wie der Betrieb damals heißt. Zwischenzeitlich wird Shirley in der Rangliste der Sunday Times als elftreichste Frau des Landes geführt, drei Plätze hinter der Queen und mit einem geschätzten Vermögen von 140 Millionen Pfund. Sich in dieser Liste zu finden, habe sie „ziemlich überrascht“, sagt Shirley. „Ich hatte das Unternehmen gar nicht gegründet, um irgendwann reich zu werden, sondern um für mich und andere Frauen ein angenehmes Arbeitsumfeld zu schaffen“, sagt sie.
Das war auch nötig, denn in der Wirtschaftswelt der Nachkriegszeit hatten es Frauen schwer, die anspruchsvolle und wichtige Aufgaben übernehmen wollten.
Shirley fängt 1951 als Assistentin in einer Forschungsabteilung des Post Office an, der staatlichen Post- und Telefonbehörde. Die Entwickler dort nutzen die ersten so einfachen wie großen Computer für ihre Projekte. Abends studiert die wissbegierige Mitarbeiterin Mathematik, und sie beginnt sich für die Möglichkeiten zu begeistern, welche die exotischen Maschinen bieten – wenn sie nur mit den richtigen Programmen gefüttert werden.
Im Jahr 1957 gehört sie zu den ersten Mitgliedern der British Computer Society, in der heute gut 74000 Fachleute organisiert sind. Doch am Arbeitsplatz stößt die ehrgeizige Frau an Grenzen. Sie bewirbt sich auf eine Forscherstelle, wird aber nicht genommen und erfährt, dass die Führungskräfte – alles Männer – aus grundsätzlichen Erwägungen Frauen keine bedeutenden Posten geben wollen. Ihre Verbesserungsvorschläge werden abgebügelt.
Sie heiratet einen Kollegen, Derek Shirley. Sie sind immer noch zusammen, trotz all der schweren Jahre mit ihrem autistischen Sohn. „Es war nicht immer alles Honig, doch es ist eine gute Ehe“, sagt sie heute. Partnerschaft am Arbeitsplatz – das hieß damals, dass einer der beiden den Betrieb verlassen muss, in der Regel die Gattin. Deswegen kündigt die Braut, lässt sich die Betriebsrente auszahlen und investiert diese in die Flitterwochen. Sie fängt bei einer Software-Firma an, stößt dort aber als Frau an die gleiche gläserne Decke wie beim staatlichen Post Office.
Nachdem ihr bei einer Besprechung rüde über den Mund gefahren wird, trifft die 29-Jährige 1962 eine Entscheidung, die ihr Leben, das Schicksal Tausender Frauen und die junge britische Computer-Industrie für immer verändern wird: Sie will ein eigenes Unternehmen aufbauen, sie will ihr eigener Chef sein und talentierten Frauen bessere Arbeitsmöglichkeiten bieten.
Shirleys Idee: Viele qualifizierte Frauen mit Erfahrung in der Branche bleiben nach Hochzeit und Geburt zu Hause. Das gebieten die Konventionen, zudem gibt es keine Teilzeitstellen. Diesen Pool ungenutzten Talents zapft sie an. Die Programmiererinnen sollen von zu Hause aus arbeiten, damit sie nebenher die Kinder hüten können, und sie werden als Freiberufler über Honorare bezahlt. Shirleys Firma braucht daher kein Büro. Und die Frauen brauchen keine Computer – sie notieren den Code mit Bleistift und Papier; danach lässt die Chefin die Befehle auf Lochstreifen übertragen. „Die einzige technische Voraussetzung war, dass die Frauen Zugang zu einem Telefon haben mussten“, sagt sie.
Passenderweise nennt sie ihr Unternehmen Freelance Programmers, also freiberufliche Programmierer, doch die Firmenbezeichnung soll sich in den kommenden Jahrzehnten mehrfach ändern. Die ersten Jahre sind schwer; dem Betrieb droht zwischenzeitlich, das Geld auszugehen. „Ich hatte keine Erfahrung im Management und machte viele Fehler“, sagt Shirley rückblickend. Dazu kommt, dass zahlreiche Unternehmen nicht auf ihre Werbeschreiben reagieren. Ihr Gatte Derek vermutet, manche Männer nähmen eine neue Software-Firma, die von einer Frau geführt wird, nicht ernst. Sein Ratschlag: Sie solle Briefe statt mit „Stephanie“ lieber mit „Steve“ Shirley unterschreiben. Es funktioniert, auf einmal antworten potenzielle Kunden – seither tritt die Chefin nach außen hin unter ihrem Spitznamen Steve auf.
Frauenfeindlichkeit bekommt Shirley immer wieder zu spüren. „Ich wurde bei Verkaufsgesprächen von Kunden begrapscht. Das war alles sehr schwierig und unangenehm“, erinnert sie sich. Trotzdem wächst die Firma weiter; Shirley mietet Büroräume und beschäftigt nun auch Festangestellte, sogar Männer. Im Jahr 1975 führt Großbritannien ein Gleichstellungsgesetz ein. Ironischerweise zwingt dies die Chefin dazu, die Unternehmens-Grundsätze anders zu formulieren: Der offizielle Firmenzweck, Frauen Karrieren zu ermöglichen, diskriminiert Männer. Später gibt sie Jahr für Jahr Betriebsanteile an ihre Mitarbeiter ab, 1991 hält die Belegschaft schließlich die Mehrheit der Aktien.
Jetzt, 53 Jahre nach Gründung ihrer Firma, haben es Frauen im Berufsleben immer noch schwer – sie verdienen im Durchschnitt weniger als Männer, in den Chefetagen sind sie Exoten. Trotzdem sagt Shirley, sie verstehe nicht, „worüber sich die Frauen heutzutage beklagen“. Anders als früher benachteiligten die Gesetze sie nicht mehr. Es sei nun an den Arbeitnehmerinnen, daraus etwas zu machen und für ihren Platz im Wirtschaftsleben zu kämpfen. Allerdings räumt sie ein, dass die Rollenklischees und kulturellen Hürden, die Frauen heute weiter im Wege stehen, wohl hartnäckiger sind und nicht so leicht weggeräumt werden können wie die juristischen Fallstricke von einst. Einer dieser Fallstricke: Frauen benötigten damals die schriftliche Erlaubnis ihres Gatten, ein Bankkonto zu eröffnen. Auch Shirley brauchte diesen Schrieb, als sie eine Bankverbindung für ihr neues Unternehmen einrichten wollte.
Sie hatte einen verständnisvollen Ehemann, der ihre Pläne unterstützte. Ein Glück – für Shirley, für die Frauen, denen sie eine Karriere ermöglichte, und für die autistischen Menschen, deren Leben sie mit ihren Spenden leichter machte.
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Der lange Kampf der Dame Steve
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