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Die Schule brennt

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Bildungspolitisch, womöglich sogar –man kann das leider nicht anders sagen – bildungstheoretisch liegen die Nerven längst völlig blank. Kein Zweifel. Vor ein paar Tagen reichte schon ein einziger Tweet der Kölner Gymnasiastin Naina für eine öffentliche Grundsatzdebatte. Sie hatte geschrieben, dass sie nun fast 18 Jahre alt sei, aber keine Ahnung hätte von Steuern, Miete oder Versicherungen, dafür aber in vier Sprachen eine Gedichtanalyse schreiben könne. Die Vorlage ließ sich natürlich auch die Bildzeitung nicht entgehen und erteilte ebenso süffisant wie großflächig Nachhilfe fürs echte Leben: „Hast Du Ware gekauft, die defekt ist, kannst Du sie reklamieren. Dazu hast Du zwei Jahre Zeit.“



"Das aktuelle Glücksversprechen der Bildung ist ein falsches, weil es dabei weder um Bildung noch um Glück geht. Es geht, wenn überhaupt, um Abrichtung, Anpassung und Zufriedenheit durch Konsum“, schreibt der Philosoph Konrad Paul Liessmann in seiner Streitschrift über die Bildungsdebatte.

Und schon diskutierte alle Welt wieder einmal darüber, was für ein nutzloser Unsinn an unseren Schulen eigentlich gelehrt werde. Und wieder gab ein Wort das andere: Non scholae, sed vitae discimus? Von wegen. Für die Schule, scheint’s vielen, wird gelernt, nicht fürs Leben. Die Direktorin des Gymnasiums der Schülerin wiederum hielt dagegen und wies ihrerseits süffisant darauf hin, dass im Mittelpunkt ihrer Wissensvermittlung nicht die praktische Ausführung stehe, also kein Kurs im „Ziehen von Kontoauszügen“ vorgesehen sei. Auch Bügeln könne man mit den Schülern nicht, dafür seien die Eltern zuständig.

Am Ende hatten sich alle Seiten ihre alten Vorurteile – hier brotloser Bildungsdünkel, da kurzsichtiger Praxisfetischismus – bestätigt und die Lage der Debatte erscheint so aussichtslos wie eh und je. Abstrakt einig mag man sich darin sein, dass Bildung und Ausbildung der Bevölkerung, insbesondere in einem rohstoffarmen Land wie Deutschland, unsere größte Sorge und Aufmerksamkeit gelten muss. Was das dann für Schulen und Universitäten wirklich bedeuten soll – darüber kann man sich tragischerweise kaum noch im Entferntesten verständigen. Oder so wenig wie zu allen Zeiten?

Eine der vorerst bittersten Pointen der Diskussion bleibt schließlich, dass das oben erwähnte berühmte lateinische Zitat des römischen Philosophen Seneca, dass man in der Schule fürs Leben lerne, gar nicht so gemeint war. Sondern genau umgekehrt. Seneca schrieb in seinen „Briefen über Ethik an Lucilius“ tatsächlich: „Nicht für das Leben, sondern für die Schule lernen wir“. Richtig fand er das jedoch nicht. Im Gegenteil, der Satz ist die Kurzfassung einer so heftigen, wie bis heute sehr vertraut klingenden Kritik an den Philosophenschulen seiner Zeit: „Kinderspiele sind es, die wir da spielen. An überflüssigen Problemen stumpft sich die Schärfe und Feinheit des Denkens ab; derlei Erörterungen helfen uns ja nicht, richtig zu leben, sondern allenfalls, gelehrt zu reden. Lebensweisheit liegt offener zu Tage als Schulweisheit; ja sagen wir’s doch gerade heraus: Es wäre besser, wir könnten unserer gelehrten Schulbildung einen gesunden Menschenverstand abgewinnen. Aber wir verschwenden ja, wie alle unsere übrigen Güter an überflüssigen Luxus, so unser höchstes Gut, die Philosophie, an überflüssige Fragen. Wie an der unmäßigen Sucht nach allem anderen, so leiden wir an einer unmäßigen Sucht auch nach Gelehrsamkeit.“

Dies soll hier so ausführlich zitiert sein, weil es letztlich auch genau die alte Position ist, gegen die ein sehr temperamentvolles neues Buch geschrieben worden ist. Es heißt „Geisterstunde. Die Praxis der Unbildung – Eine Streitschrift“ und verfasst hat es der österreichische Philosophieprofessor, Zeitdiagnostiker und Essayist Konrad Paul Liessmann, der 2006 mit „Theorie der Unbildung – Die Irrtümer der Wissensgesellschaft“ schon ein viel beachtetes Werk zum Thema vorgelegt hat.

Auch der neue Band ist wieder ein so selten gewandt formulierter wie zorniger Rundumschlag geworden. Jedes der elf zwischen zehn und zwanzig Seiten langen Kapitel knöpft sich einen Aspekt vor, es geht um das Elend der Pisa-Studie und die Verschulung der Universität, genannt Bologna-Reform, um ahnungslose Bildungsexperten wie Richard David Precht, um den allgegenwärtigen Powerpoint-Irrsinn, den Fluch der Internet-Suchmaschinen, die grassierende Infantilisierung, den Nützlichkeitswahn. Mit anderen Worten: Es geht um alles, was jenen, die einen klassisch-humanistischen, theoretischen und das Überlieferte bedachtsam bewahrenden Bildungs- und Wissensbegriff verteidigen wollen, an der zeitgenössischen reform- und anwendungsorientierten Bildungspolitik missfällt, die Problemlösungskompetenzen unabhängig von Wissen denken will. Kulturkritisch rollt Liessmann dabei schon in der Einleitung schwerstes Geschütz ins Feld: „Das aktuelle Glücksversprechen der Bildung ist ein falsches, weil es dabei weder um Bildung noch um Glück geht. Es geht, wenn überhaupt, um Abrichtung, Anpassung und Zufriedenheit durch Konsum.“

Tatsächlich sind die Beispiele, Analysen und Diagnosen immer wieder sehr eindrucksvoll, obwohl Liessmanns Furor mitunter etwas erschöpft (ein Kapitel pro Lektüresitzung ist zu Beginn der Behandlung völlig ausreichend). Jeder Interessierte allerdings, vor allem aber jeder Bildungspolitiker, diesen Eindruck wird man beim Lesen nicht mehr los, sollte dieses Buch gelesen haben. Es fängt an bei den wohlbegründeten Zweifeln am Design der Pisa-Studien, für deren weitreichende Schlussfolgerungen womöglich bei weitem nicht genügend Daten erhoben würden. Von den rund zehn Millionen deutschen Schülern würden nur 5000 dem Pisa-Test unterzogen. Für manchen Typus, etwa den männlichen Schüler mit Migrationshintergrund in einem norddeutschen Kleinstadt-Gymnasium, gäbe es, so Liessmann, manchmal wohl nur einen einzigen Testkandidaten: „Hat dieser einen schlechten Tag, herrscht bildungspolitischer Notstand, ist er in Form, hat ganz Deutschland ein ungerechtes Schulsystem beseitigt.“

Einen angenehm scharfen Blick hat Liessmann auch auf die ideologischen Untiefen der Debatte. Sei es, wenn es um die Instrumentalisierung von Pisa zur Konstruktion von vermeintlichen Bildungskatastrophen geht, die dann wiederum Reformbedarf erzwängen; sei, es wenn es um die Rhetorik der Diskussion geht, die Mittelmäßigkeit und Nonkonformität zum Stigma mache: „Wer sich dem ,Bildungsdruck‘ entzieht, gilt als ,Bildungsverweigerer‘ oder als ,Risikoschüler‘ – und wehe, jemand ist überhaupt nur mittelmäßig“; oder sei es, wenn er die unheilige Allianz ins Visier nimmt zwischen den „neoliberalen Apologeten des Wettbewerbs“ und den „menschenfreundlichen Illusionspädagogen“, die so tun, als sei jedes Kind von Haus aus hochbegabt und Bildung und Wissen nicht in Wahrheit etwas, das man sich hart erarbeiten muss.

Und ein cleverer Zug war es auch, es nicht bei der Polemik zu belassen, sondern nach dem kursivierten Halbsatz „Und dabei wäre alles ganz einfach“ am Ende jedes Kapitels auch ein paar Vorschläge zur Güte zu machen. Oder vielmehr zur Entschleunigung, Stabilität und Planungssicherheit an Schulen und Universitäten. Den Lehrern etwa solle zugehört und Bildung nicht als Heilsbotschaft verklärt werden.

Grundvernünftig erscheint das. So grundvernünftig allerdings, dass man am Ende auch etwas ratlos zurückbleibt. Wenn es so einfach ist, wieso wird es dann nicht einfach so gemacht? Vielleicht, weil man – der Germanist Heinz Schlaffer hat kürzlich in der FAZ darauf hingewiesen – über „höhere Bildung“, die nicht mehr drei Prozent, sondern über 50 Prozent eines Jahrgangs ereilen soll, wirklich ganz neu nachdenken muss. Womöglich, bliebe anzufügen, auch mit viel besseren Daten.

Bis dahin bleibt vorerst nur die Weisheit Harald Schmidts. 200 Oberstufenschülern des Ville-Gymnasiums in Erftstadt-Liblar gab er am Donnerstag eine Doppelstunde in Lebenskunde und vertrat dabei bildungstheoretisch den wohl originellsten Standpunkt der Naina-Debatte, allerdings auch den deprimierendsten: „Unser Gesellschaftssystem lebt davon, dass die Bevölkerung nicht in der Lage ist, einen Mietvertrag zu lesen. Wenn die arbeitende Bevölkerung begreift, was sie unterschreibt, wäre unser System am Ende.“

Konrad Paul Liessmann: Geisterstunde. Die Praxis der Unbildung – Eine Streitschrift. Zsolnay Verlag, Wien 2014. 192 Seiten, 17,90 Euro. E-Book 13,99 Euro.


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