Noch vor ganz kurzer Zeit waren die durchgefallenen Pilotfolgen – jene Testepisoden einer möglichen Fernsehserie also, die schließlich doch nicht gesendet werden – so etwas wie die Riesenkalmare der Fernsehbranche: Man weiß, dass es sie gibt, aber kaum jemand hat schon mal einen gesehen. „Die Korrekturen“ sind so ein Fall. Der Pay-Sender HBO hatte einen Pilotfilm für eine Serienadaption des Romans von Jonathan Franzen drehen lassen. Das Drehbuch schrieb Franzen selbst, zusammen mit der Independentfilm-Ikone Noah Baumbach. In den Hauptrollen: Ewan McGregor, Chris Cooper und Greta Gerwig. Aber das Projekt wurde beerdigt. Es heißt, dem Sender hätten zwar die Schauspieler, nicht aber die Umsetzung der anspruchsvollen Erzählstruktur gefallen. Bis auf die Entscheider bei HBO hat kaum jemand die Folge gesehen, sie verschwand in den Archiven.
In der vergangenen Woche sind neue Serienpiloten von Amazon Instant Video erschienen. "Prime"-Kunden können die sieben neuen Serien nun kostenlos testen.
Bei Amazon Instant Video geht man seit 2013 anders ans Pilot-Prinzip heran: So viele Leute wie möglich sollen die Testfolgen anschauen, um mitzuentscheiden, welche Geschichten dann tatsächlich in Serie gehen und um das Publikum möglichst frühzeitig für künftige Serien zu begeistern. Bei einer dieser Pilotfolgen hat das bereits gut funktioniert: Die erste Episode von „Transparent“ über einen transsexuellen Familienvater ging am 6.Februar 2014 online. Im März wurde eine ganze Staffel in Auftrag gegeben, die im September zu sehen war – bei den Golden Globes Mitte Januar bekam die Show den Preis als beste Comedy-Serie.
Vergangene Woche sind jetzt die neuen Serienpiloten erschienen und für jeden, der einen Amazon-Account hat – also unabhängig von einer Mitgliedschaft beim Bezahlangebot „Prime“ – kostenlos abrufbar: sieben Dramen, Komödien und Dokumentationen für Erwachsene, dazu einiges für Kinder.
Mit Abstand das spannendste Projekt in diesem Angebot ist ausgerechnet ein Gruß aus der ganz alten Medienwelt. Das Magazin New Yorker ist für tiefgründigen Journalismus, Kurzgeschichten und hintersinnige Cartoons bekannt – und hat es mit „The New Yorker Presents“geschafft, all diese Elemente so werkgetreu in ein Fernsehformat umzusetzen, dass man sich mit dem Laptop auf dem Schoß tatsächlich so fühlt wie mit dem gedruckten Heft in der Hand. Es gibt sogar ein Inhaltsverzeichnis. Darin: ein Kurzfilm, in dem Alan Cumming den lieben Gott spielt; ein Gespräch mit der Performancekünstlerin Marina Abramović; ein Dokumentarfilm über den US-Biologen Tyrone Hayes, der auf einem im New Yorker veröffentlichten Porträt beruht; ein Gedicht, von Schauspieler Andrew Garfield vorgetragen; und natürlich Cartoons.
Bei den fiktionalen Formaten sticht keines deutlich hervor. Noch, muss man sagen, denn nicht selten laufen Serien sich erst nach ein paar Folgen richtig warm – und bei Amazon gibt es bislang ja immer nur eine. „The Man in the High Castle“ aber macht neugierig. Die Serie spielt 1962 und basiert auf dem gleichnamigen Roman von Philip K. Dick, der auch die Vorlage für „Blade Runner“ lieferte. Die Prämisse: Was wäre, wenn die Nazis den Krieg gewonnen hätten? Die USA sind in dieser Dystopie in das „Greater Nazi Reich“ im Osten und die „Japanese Pacific States“ im Westen geteilt. Die New Yorker Subway heißt U-Bahn, Hitler hat Parkinson, und am Times Square patrouillieren amerikanische Nazis mit deutschen Schäferhunden.
Ebenfalls vor historischer Kulisse, nämlich der des amerikanischen Bürgerkrieges, spielt „Point of Honor“. Das Familiendrama beginnt wie eine Südstaaten-Variante von „Downton Abbey“, inklusive Landsitz, Bediensteten und Frauen in umständlichen Kleidern. Aber dann entschließt sich der älteste Sohn, allen Sklaven die Freiheit zurückzugeben, und es brechen alle möglichen Konflikte auf.
Dass bei Amazons Versuchsanordnung nicht nur herausragendes Fernsehen zu sehen ist, leuchtet ein. In der Comedy-Serie „Down Dog“ zum Beispiel, benannt nach der Yoga-Übung „Nach unten schauender Hund“, muss sich ein bisher auf seinem angenehmen Äußeren durchs Leben surfender Yogalehrer plötzlich zum Businessmann mausern – was weder neu noch besonders lustig ist. Aber wenn am Ende dieser Pilotenstaffel nur eine Serie in Serie gehen darf – nämlich „The New Yorker Presents“ – hat sich das Experiment schon gelohnt.
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Schäferhunde am Times Square
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