Tove mag Mathe. Weil es so schön logisch ist, sagt die Sechstklässlerin. Wenn sie mal eine Frage nicht gleich versteht, wiederholt ihr Tischnachbar Viggo sie für sie. Tove ist taub, das Mädchen hat eine Hörhilfe im Ohr. Unter ihren langen blonden Haaren sieht man die zwar nicht. Aber im Unterricht sprechen deshalb alle in kleine schwarze Geräte, die wie iPods in Ladestationen vor ihnen stehen. Die Lehrerin malt eine Familie an die Tafel, Vater, Mutter, Kinder, und schreibt das Alter unter die Figuren. Die Schüler sollen Durchschnitt und Median ausrechnen, sie machen gut mit. Außer Tove sitzen zwei weitere Kinder im Raum, auf die die Lehrer besondere Rücksicht nehmen müssen, zwei Legastheniker.
Schweden gilt als Vorbild bei der Inklusion behinderter Kinder. Vollkommen integriert sind Schüler mit Einschränkungen aber auch dort nicht.
Eintausend Schüler besuchen die Johan Skytteskolan in Älvsjö im Stockholmer Süden. Etwa jeder achte von ihnen habe eine „psychologische Diagnose“, sagt Schulleiter Stig Gisslén. Er zählt Legasthenie und ADHS auf, aber auch elf Schüler mit Asperger-Syndrom und anderen Formen von Autismus sind darunter. Seit drei Jahren arbeite die Schule daran, alle Kinder noch intensiver am regulären Unterricht teilhaben zu lassen. „Wir lehren unsere Schüler, dass jeder Mensch anders ist“, sagt Gisslén. Gleichzeitig sollen alle teilhaben.
Schweden gilt als Vorbild bei der Inklusion behinderter Kinder, die deutsche Unesco-Kommission lobte vergangenes Jahr, dort seien Förderschulen „so gut wie abgeschafft“, Schweden sei da „vorbildhaft“, jubelte zum Beispiel die Zeitung Neues Deutschland. Das schwedische Schulsystem unterscheidet sich stark vom deutschen. Es ist darauf ausgelegt, jeden gleich zu behandeln. Die ersten neun Schuljahre verbringen alle Kinder auf derselben Grundschule. Die Eltern haben lediglich die Wahl zwischen privaten und kommunalen Trägern.
Beide werden durch Steuergeld finanziert, das Bildungsministerium gibt im Curriculum Lernziele vor. Wie sie diese erreichen und wie viel sie dafür investieren möchten, entscheiden die Gemeinden jedoch selbst, was teils zu großen regionalen Unterschieden führt. Überall gilt: Jeder Schüler soll die nächstgelegene Grundschule besuchen können. „Wenn das Kind ein Handicap hat, dann muss die Schule dafür sorgen, dass es trotzdem in diese Schule gehen kann“, sagt Adelinde Schmidhuber, die in Stockholm für die städtischen Grundschulen zuständig ist. Das könne bedeuten, dass deren Direktor eine Rampe für Rollstuhlfahrer bauen, technische Hilfen anschaffen oder dem Schüler eine Begleitperson zur Seite stellen müsse. „Wo ein Kind Gebärdensprache braucht, da kann dann die ganze Klasse Gebärdensprache lernen“, sagt Schmidhuber.
Perfekt integriert sind Schüler mit Einschränkungen trotzdem oft nicht. An vielen Schulen gibt es kleine Sondergruppen, in denen sie getrennt von den anderen unterrichtet werden. „Leider haben wir das in den Neunzigerjahren viel gemacht“, sagt Schmidhuber. „Und leider machen wir das immer noch häufig.“ Die separaten Gruppen sollen nur Übergangslösungen sein. Schmidhuber beschreibt sie als eine Art Nachhilfe, oft auch nur für bestimmte Fächer, bis das Kind bereit ist, in die reguläre Klasse zu wechseln. Schüler, bei denen das gar nicht gelingt, können in eine der 16 festeingerichteten Spezialgruppen gehen, die es in Stockholm gibt. Darüber entscheidet aber nicht ihr Direktor, sondern Experten der Stadt. Lediglich 225 der 60000 Stockholmer Schüler sitzen laut Schmidhuber in diesen festen Spezialgruppen.
Unterstützt werden die Gemeinden und Städte von der staatlichen Behörde für Sonderpädagogik, Specialpedagogiska skolmyndigheten (SPSM). SPSM-Experte Per Skoglund hat Zahlen für ganz Schweden und seine etwa 900000 Grundschüler. Demnach gehen 12000 von ihnen auf Sonderschulen (Särskolan), die nur geistig behinderte Kinder unter einer bestimmten IQ-Grenze aufnehmen. 10000 weitere sitzen in normalen Grundschulen – allerdings in Sondergruppen, schätzt Skoglund. Wenn diese Kinder am normalen Unterricht teilnehmen, komme es darauf an, dass sie nicht nur „integriert“, also in die Klasse gesetzt, werden. Sie müssten „gesehen, verstanden, unterrichtet und unterstützt“ werden, sagt Skoglund. Das funktioniere mal besser und mal schlechter.
Wie es an der Johan Skytteskolan funktioniert, erklärt Vize-Direktorin Monika Strandberg, die das Projekt Inklusion koordiniert. Sie schickt oft zwei Lehrer gleichzeitig in eine Klasse – den Lehrer für das Unterrichtsfach und einen der fünf Sonderpädagogen der Schule, der seine Schützlinge sonst in einer Sondergruppe außerhalb des normalen Unterrichts betreuen würde. Diese getrennten Gruppen gibt es zwar auch noch, sie sollen aber so selten wie möglich stattfinden.
Stattdessen achten nun alle Lehrer stärker darauf, dass jeder Schüler mitkommt. Um das zu erreichen, geben sie ihnen Informationen immer auf mehreren Wegen. Einen Text beispielsweise lesen sie vor, bevor sie ihn austeilen, das hilft den Leseschwachen. Wenn sie etwas erklären, schreiben sie die wichtigsten Vokabeln an die Tafel oder arbeiten mit Bildern.
Fühlen sich leistungsstarke Schüler bei so viel Betreuung nicht unterfordert? Strandberg glaubt das nicht, sie hält die Zusammenarbeit mit lernschwächeren Schülern für eine gute Erfahrung. „Die Menschen in der Gesellschaft sind unterschiedlich. Wir zeigen unseren Schülern, wie die Gesellschaft ist.“ Sie haben offenbar Erfolg damit: Nahezu alle an der Schule schließen so gut ab, dass sie danach drei Jahre aufs Gymnasium gehen können. Die größte Herausforderung sind autistische Schüler. Auch hier ist jedes Kind anders. Manche müssen später anfangen, weil ihr Tagesablauf anders ist als der ihrer Klassenkameraden. Manche möchten in den Pausen nicht auf den Schulhof gehen. Auf Ausflüge und Projektwochen müssen autistische Schüler besonders gut vorbereitet werden. Sie mögen es meist nicht, wenn etwas von ihrer Routine abweicht.
Einem autistischen Jungen in der neunten Klasse ist das an diesem Tag passiert. Albert hat normalerweise Begleitung zum Mittagessen, doch die ist heute nicht gekommen. Also habe er gar nichts gegessen, erzählt die Kunstlehrerin Margareta Kupper besorgt. Sie fürchtet, dass es im Unterricht nun schwierig wird mit ihm. Doch Albert wartet friedlich mit den anderen vor dem Kunstraum, kommt mit dem Klingeln als Erster herein, geht geradewegs auf seinen Platz und legt seine Sachen ordentlich vor sich. Die Lehrerin hat ausgestopfte Vögel auf den Tischen verteilt, die Kinder sollen sie malen – aber nicht anfassen. Kupper erklärt alles langsam und ausführlich, sagt vieles zweimal. Albert hört ruhig zu.
Wenn man Schmidhuber fragt, was sie noch verbessern möchte, spricht sie von einer langen Reise, die wohl niemals ende. „Früher hat man zu viel Angst gehabt vor diesen Kindern und sich nur darauf konzentriert, dass sie sich wohlfühlen, irgendwie dabei sind“, sagt sie. Der nächste Schritt sei, sie zu fordern. „Sie müssen auch etwas lernen, es aufs Gymnasium schaffen, einen Beruf ergreifen“, sagt sie. Eben genau wie alle anderen.
Schweden gilt als Vorbild bei der Inklusion behinderter Kinder. Vollkommen integriert sind Schüler mit Einschränkungen aber auch dort nicht.
Eintausend Schüler besuchen die Johan Skytteskolan in Älvsjö im Stockholmer Süden. Etwa jeder achte von ihnen habe eine „psychologische Diagnose“, sagt Schulleiter Stig Gisslén. Er zählt Legasthenie und ADHS auf, aber auch elf Schüler mit Asperger-Syndrom und anderen Formen von Autismus sind darunter. Seit drei Jahren arbeite die Schule daran, alle Kinder noch intensiver am regulären Unterricht teilhaben zu lassen. „Wir lehren unsere Schüler, dass jeder Mensch anders ist“, sagt Gisslén. Gleichzeitig sollen alle teilhaben.
Schweden gilt als Vorbild bei der Inklusion behinderter Kinder, die deutsche Unesco-Kommission lobte vergangenes Jahr, dort seien Förderschulen „so gut wie abgeschafft“, Schweden sei da „vorbildhaft“, jubelte zum Beispiel die Zeitung Neues Deutschland. Das schwedische Schulsystem unterscheidet sich stark vom deutschen. Es ist darauf ausgelegt, jeden gleich zu behandeln. Die ersten neun Schuljahre verbringen alle Kinder auf derselben Grundschule. Die Eltern haben lediglich die Wahl zwischen privaten und kommunalen Trägern.
Beide werden durch Steuergeld finanziert, das Bildungsministerium gibt im Curriculum Lernziele vor. Wie sie diese erreichen und wie viel sie dafür investieren möchten, entscheiden die Gemeinden jedoch selbst, was teils zu großen regionalen Unterschieden führt. Überall gilt: Jeder Schüler soll die nächstgelegene Grundschule besuchen können. „Wenn das Kind ein Handicap hat, dann muss die Schule dafür sorgen, dass es trotzdem in diese Schule gehen kann“, sagt Adelinde Schmidhuber, die in Stockholm für die städtischen Grundschulen zuständig ist. Das könne bedeuten, dass deren Direktor eine Rampe für Rollstuhlfahrer bauen, technische Hilfen anschaffen oder dem Schüler eine Begleitperson zur Seite stellen müsse. „Wo ein Kind Gebärdensprache braucht, da kann dann die ganze Klasse Gebärdensprache lernen“, sagt Schmidhuber.
Perfekt integriert sind Schüler mit Einschränkungen trotzdem oft nicht. An vielen Schulen gibt es kleine Sondergruppen, in denen sie getrennt von den anderen unterrichtet werden. „Leider haben wir das in den Neunzigerjahren viel gemacht“, sagt Schmidhuber. „Und leider machen wir das immer noch häufig.“ Die separaten Gruppen sollen nur Übergangslösungen sein. Schmidhuber beschreibt sie als eine Art Nachhilfe, oft auch nur für bestimmte Fächer, bis das Kind bereit ist, in die reguläre Klasse zu wechseln. Schüler, bei denen das gar nicht gelingt, können in eine der 16 festeingerichteten Spezialgruppen gehen, die es in Stockholm gibt. Darüber entscheidet aber nicht ihr Direktor, sondern Experten der Stadt. Lediglich 225 der 60000 Stockholmer Schüler sitzen laut Schmidhuber in diesen festen Spezialgruppen.
Unterstützt werden die Gemeinden und Städte von der staatlichen Behörde für Sonderpädagogik, Specialpedagogiska skolmyndigheten (SPSM). SPSM-Experte Per Skoglund hat Zahlen für ganz Schweden und seine etwa 900000 Grundschüler. Demnach gehen 12000 von ihnen auf Sonderschulen (Särskolan), die nur geistig behinderte Kinder unter einer bestimmten IQ-Grenze aufnehmen. 10000 weitere sitzen in normalen Grundschulen – allerdings in Sondergruppen, schätzt Skoglund. Wenn diese Kinder am normalen Unterricht teilnehmen, komme es darauf an, dass sie nicht nur „integriert“, also in die Klasse gesetzt, werden. Sie müssten „gesehen, verstanden, unterrichtet und unterstützt“ werden, sagt Skoglund. Das funktioniere mal besser und mal schlechter.
Wie es an der Johan Skytteskolan funktioniert, erklärt Vize-Direktorin Monika Strandberg, die das Projekt Inklusion koordiniert. Sie schickt oft zwei Lehrer gleichzeitig in eine Klasse – den Lehrer für das Unterrichtsfach und einen der fünf Sonderpädagogen der Schule, der seine Schützlinge sonst in einer Sondergruppe außerhalb des normalen Unterrichts betreuen würde. Diese getrennten Gruppen gibt es zwar auch noch, sie sollen aber so selten wie möglich stattfinden.
Stattdessen achten nun alle Lehrer stärker darauf, dass jeder Schüler mitkommt. Um das zu erreichen, geben sie ihnen Informationen immer auf mehreren Wegen. Einen Text beispielsweise lesen sie vor, bevor sie ihn austeilen, das hilft den Leseschwachen. Wenn sie etwas erklären, schreiben sie die wichtigsten Vokabeln an die Tafel oder arbeiten mit Bildern.
Fühlen sich leistungsstarke Schüler bei so viel Betreuung nicht unterfordert? Strandberg glaubt das nicht, sie hält die Zusammenarbeit mit lernschwächeren Schülern für eine gute Erfahrung. „Die Menschen in der Gesellschaft sind unterschiedlich. Wir zeigen unseren Schülern, wie die Gesellschaft ist.“ Sie haben offenbar Erfolg damit: Nahezu alle an der Schule schließen so gut ab, dass sie danach drei Jahre aufs Gymnasium gehen können. Die größte Herausforderung sind autistische Schüler. Auch hier ist jedes Kind anders. Manche müssen später anfangen, weil ihr Tagesablauf anders ist als der ihrer Klassenkameraden. Manche möchten in den Pausen nicht auf den Schulhof gehen. Auf Ausflüge und Projektwochen müssen autistische Schüler besonders gut vorbereitet werden. Sie mögen es meist nicht, wenn etwas von ihrer Routine abweicht.
Einem autistischen Jungen in der neunten Klasse ist das an diesem Tag passiert. Albert hat normalerweise Begleitung zum Mittagessen, doch die ist heute nicht gekommen. Also habe er gar nichts gegessen, erzählt die Kunstlehrerin Margareta Kupper besorgt. Sie fürchtet, dass es im Unterricht nun schwierig wird mit ihm. Doch Albert wartet friedlich mit den anderen vor dem Kunstraum, kommt mit dem Klingeln als Erster herein, geht geradewegs auf seinen Platz und legt seine Sachen ordentlich vor sich. Die Lehrerin hat ausgestopfte Vögel auf den Tischen verteilt, die Kinder sollen sie malen – aber nicht anfassen. Kupper erklärt alles langsam und ausführlich, sagt vieles zweimal. Albert hört ruhig zu.
Wenn man Schmidhuber fragt, was sie noch verbessern möchte, spricht sie von einer langen Reise, die wohl niemals ende. „Früher hat man zu viel Angst gehabt vor diesen Kindern und sich nur darauf konzentriert, dass sie sich wohlfühlen, irgendwie dabei sind“, sagt sie. Der nächste Schritt sei, sie zu fordern. „Sie müssen auch etwas lernen, es aufs Gymnasium schaffen, einen Beruf ergreifen“, sagt sie. Eben genau wie alle anderen.