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Für die Freiheit

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Seine letzten Mails waren voller Ungeduld, er musste ins Krankenhaus, schrieb von den Schmerzen und den Unannehmlichkeiten, von diesem lästigen Krebs, bei dem die Perspektiven leider dunkel seien. Er hatte für Gebrechlichkeit keine Zeit. „Ich bezweifle, dass ich 2015 überleben werde, aber ich ignoriere das jetzt erst mal, wie Du am Anhang sehen kannst.“ Vielleicht, schrieb er, klappt ja noch ein Treffen in diesem Leben, nicht erst post mortem. Dein Carl.

Angehängt war sein Terminkalender – Carl Djerassi, 91 Jahre alt, war ausgebucht bis Mai 2015: Seminare in San Francisco, Lesungen in Texas, dann London, Wien, Rostock, New Haven, New York.

Am Ende ist ihm die Zeit ausgegangen. Es gab noch so viele Missverständnisse, so viel Ignoranz. Zuletzt lobte er in einem Gastbeitrag in der SZ die Firmen Apple und Facebook, die Mitarbeiterinnen anboten, kostenlos ihre Eizellen einzufrieren. Carl Djerassi fand schon die deutsche Bezeichnung „Social Freezing“ dafür absurd, weil abwertend. Die bisweilen fast hysterischen Reaktionen auf das kostenlose Einfrieren fand er unbegreiflich. Für ihn war es ein Angebot, das Frauen annehmen können, wenn sie wollen. Ein Geschenk der Reproduktionsmedizin, eine Möglichkeit, die das Machtgefälle zwischen den Geschlechtern verringern würde. Es sei eine persönliche Wahl, ob es eine gute oder schlechte ist, wer könnte das bewerten?



Der Miterfinder der Pille, Professor Carl Djerassi, im Jahr 2000 bei "Sabine Christiansen" in Berlin.


Bis zuletzt waren das seine Lebensthemen: Die Trennung von Sex und Fortpflanzung, die Entwicklung der Reproduktionsmedizin, von der Pille über die künstliche Befruchtung bis zum Einfrieren der Eizellen. 91? Na und, im Kopf war er Jahrzehnte jünger. Er hatte immer eine große Lust, die Welt mit den wissenschaftlichen Möglichkeiten zu konfrontieren. In den Siebzigern ließ er sich selbst sterilisieren, in den Neunzigern wollte er zusammen mit einem Spezialisten für Nutzvieh die Haltbarkeit von männlichem Sperma beweisen. Sie fragten bei der Armee an, schließlich seien da genug junge Männer, die bereit wären zu masturbieren. Kein Interesse, eher Entsetzen. Und jetzt wäre dieses Wissen so wichtig.

Er sei ein „männlicher Feminist“, sagte Carl Djerassi, da war er 87 Jahre alt. Ein Methusalem, der Zeit immer weit voraus.

Aber am Ende ging ihm die Zeit dann aus, wie auch nicht, wenn man mehrere Leben in eines packt. Er war Wissenschaftler, Chemieprofessor an der Stanford-Universität. Mäzen, Kunstsammler, Romancier, Dramatiker. Er sei immer eine ambitionierte Person gewesen, sagte er 2011 in seiner Londoner Wohnung, die Wände voller Originale: Calder, Jensen, Bacon. Das war ein einigermaßen dreistes Understatement.

Er war ambitioniert und – darauf legte er Wert – immer eitel genug, um mit großer Ausdauer von seinen Erfolgen zu erzählen: Von den mehr als 1200 wissenschaftlichen Artikeln, den 33 Ehrendoktortiteln, von der National Medal of Science und der National Medal of Technology, die er wie nur wenige Chemiker beide bekam, von seinen Theaterstücken und Büchern, von seiner Paul-Klee-Sammlung, der weltweit größten privaten. Von der Briefmarke, die ihm die Österreichische Post 2005 widmete. Geboren – vertrieben – versöhnt.
Als wäre es so einfach.
Wenn Djerassi seine Lebensleistungsliste herunterratterte, seine Ehrenkreuze, Ehrenzeichen, Ehrenmedaillen, spürte man seinen Stolz und die Verletzung, dass ihm die wichtigste Anerkennung verwehrt blieb: der Nobelpreis. Aufgehoben und aufgehängt hat er vor allem die Plakate seiner Theaterstücke, den Kritikern zum Trotz, die ihn als Schriftsteller nie ernst nahmen. Er reagierte mit der ihm eigenen Hartnäckigkeit. Kein Text, in dem er nicht eines seiner „Science-in-fiction“-Stücke zitierte, kein Interview ohne Hinweis auf seine Bücher. Es kamen ja immer neue dazu, er arbeitete wie ein Berserker, schrieb Mails mitten in der Nacht, nannte sich einen „intellektuellen Polygamisten“. Selbstzweifel? Nicht sein Ding. Nur manchmal sagte er, das Lebenswerk relativierend: „Ich habe halt früh angefangen und lange gelebt.“

Carl Djerassi war immer bewusst, dass ein langes Leben ein Geschenk ist. Und auch, dass Einsamkeit der Preis dafür ist.
Zuerst verlor er seine Tochter Pamela, die sich 1978 das Leben nahm. Die Tragödie seines Lebens. Fast 30 Jahre später starb seine dritte Ehefrau und große Liebe Diane Middlebrook an Krebs. Rastlosigkeit wurde immer mehr zur Überlebensstrategie, das ewige Reisen, die Vorträge, die Lesungen, das Schreiben, alles Mittel gegen die Einsamkeit, die ihn im Alter mit großer Wucht überfiel. Wie ein Getriebener pendelte er zwischen den Lebensorten: San Francisco, London, und in den letzten Jahren immer öfter Wien. Diese Stadt, die er mit 15 verlassen hat, verlassen musste, und der er sich erst später wieder näherte.

Er war ein glückliches Kind, bis der nationalsozialistische Irrsinn in sein Leben einbrach. Er wurde am 29. Oktober 1923 in Wien geboren, die Mutter aschkenasische Jüdin, der Vater bulgarischer Sepharde. 1938 floh er mit der Mutter vor den Nazis nach Bulgarien, 1939 in die USA. Dort übersprang er zwei Klassen, schaffte es mit Vermittlung von Eleanor Roosevelt ohne Schulabschluss an die Universität, studierte Chemie, wurde mit 26 stellvertretender Forschungsdirektor bei der Firma Syntex in Mexiko. Seiner Sprache hörte man die Heimatlosigkeit ein Leben lang an, es war ein Deutsch ohne Verortung, wienerisch, amerikanisch, durchsetzt mit kleinen Ungenauigkeiten, berauschend charmant.

Er war auch nach seiner Erkrankung noch eine Erscheinung, das weiße Haar, der Bart, zum Schnauzer gestutzt, der Stock mit Ebenholzgriff, wie hingemalt. Sein leichtes Humpeln zelebrierte er, das Entfalten des kleinen Stühlchens für das steife Bein – großes Kino. Ihn umwehte eine ungeheure Leichtigkeit. An seinem 90.Geburtstag schickte er einen Gruß voller Lebenslust: „C’est tout bis zum 100.“

Mit 28 gelang ihm und Kollegen die Synthese des Sexualhormons Norethisteron, die Grundlage für die Pille und die sexuelle Revolution. Seitdem galt er als Erfinder der Antibabypille. Wobei ihn das Wort Antibabypille immer nervte. Für ihn war es keine Pille gegen Babys, sondern eine für die Freiheit, zu wählen. Und weil er immer ein großer Selbstdarsteller, ein begabter Selbstvermarkter war, nannte er seine erste Autobiografie: „Die Mutter der Pille“. Dazu ein Foto, Djerassi, hochschwanger, mit dem Blick des Muttertiers. Der Titel verfolgte ihn ein Leben lang. Alle wollten mit der „Mutter der Pille“ immer über die Pille reden. Aber er war schon viel weiter. Wieder einmal war ihm die Welt zu engstirnig.

Als 2013 seine vierte und, wie er im Untertitel versprach, „allerletzte Autobiografie“ herauskam, fing er den Text mit der eigenen Todesnachricht an. Carl Djerassi, stand da, habe am 28.Oktober 2023 das Haus verlassen und sei verschwunden. Am Tag vor seinem 100. Geburtstag. Selbstmord durch Ertrinken. Auch im echten Leben hatte er Kaliumcyanid zu Hause, genug, um ein „Rudel Löwen zu töten“. Für ihn war das wichtig, zu wissen, dass er die Freiheit hat zu gehen, wenn er will.

Am 30. Januar ist er jetzt in San Francisco gestorben, mit 91 Jahren, aber man wird das Gefühl nicht los, dass er lieber noch ein bisschen gewartet hätte.


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