Als Richard von Weizsäcker im September 2013 das letzte Interview seines Lebens gab, war er bereits von Krankheit gezeichnet. Doch selbst wenn er sich mit den Antworten mehr Zeit ließ, waren die Gedanken von Schärfe und historischer Sensibilität geprägt. Er wollte über Europa reden, seinem „eigentlichen politischen Lebensthema“. Die Aufarbeitung der Geschichte und die Einheit Deutschlands seien nur möglich, weil es die Gemeinschaft der Europäer gebe. Auszüge aus dem Interview:
SZ: Herr von Weizsäcker, plötzlich wird über einen europäischen Hegemon diskutiert. Können Sie den erkennen?
Richard von Weizsäcker: Die Deutschen haben auf hartem Weg, in zwei europäischen Kriegen, gelernt, dass hegemoniales Denken diesem Kontinent nicht guttut. Dringend benötigt wird ein gemeinsames Europa. So wenig wie Deutschland seine Geschichte umdeuten kann, so wenig wird es eine Zukunft allein für sich definieren können.
Ein Foto von Richard von Weizsäcker in Bellevue. Der Alt-Bundespräsident war am Samstag den 31.01.2014 im Alter von 94 Jahren verstorben.
Heute erlebt Europa eine Teilung in Nord und Süd, in Krisenstaaten und prosperierende Staaten – überspitzt in ein südlich-mediterranes und ein protestantisch-nördliches Europa. Die Deutschen spielen plötzlich eine Führungsrolle.
Die Teilung zwischen Norden und Süden in Europa hat mir nie eingeleuchtet. Ich will nicht sagen: noch weniger als die Teilung zwischen Ost und West, denn die ging ja sozusagen mitten durch unsere eigenen Eingeweide hindurch. Ich finde, dass wir gerade durch die Art und Weise, wie wir die Teilung Europas und Deutschlands überwunden haben, Prägendes für ein wachsendes Europa gelernt haben. Mit dieser Erfahrung sollten wir besser beitragen können zur Bekämpfung der aktuellen Spaltungen. Nun haben wir uns – auch mit deutschen Fähigkeiten und Tugenden – in eine Position gebracht, die für ganz Europa von entscheidender Bedeutung sein wird. Ich gehöre zu einer Generation, die sich dieser besonderen Verantwortung absolut bewusst ist. Noch einmal: Wir sind ringsherum von Völkern umgeben, die gute Gründe haben, uns nicht nahezustehen nach allem, was sie mit uns und durch uns erlebt haben, in der Kriegs- und Nazizeit.
Deswegen spürt man plötzlich wieder alte Ressentiments. Deutschland wird als zu mächtig empfunden. Hat Deutschland einen Führungsanspruch in Europa?
Das sehe ich nicht. Es gibt keinen weitgehenden politischen Führungsanspruch, und erst recht nicht in Verbindung mit wirtschaftlichen Leistungen. Fast im Gegenteil. Immer wieder taucht heute die Frage auf, ob dieses weiter notwendigerweise zusammenwachsende Europa nicht mehr Führung vertrüge, nein: dringend brauchte. Es wird nicht schnell und nicht zu weit gehen. Wir sind nach der Vereinigung, nach der Überwindung der Teilung in keiner Weise scharf darauf, nun eine Art von Führungsrolle zu übernehmen. Umgekehrt aber gilt: Wir können denjenigen Teilen der EU, die auf Hilfe angewiesen sind, diese Hilfe auch anbieten, indem wir sie stützen und indem wir unserer eigenen Bevölkerung klarmachen, wie viel wir diesen Ländern zumuten. Wir sind ein gutes Vorbild etwa durch unseren Mittelstand – aber das heißt nicht, dass wir eine Führungsrolle in diesem Europa anstreben und dafür besonders geeignet wären.
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Aber die Wahrnehmung gerade in den Krisenländern zeugt ja von dieser Furcht vor einem zu dominanten Deutschland. Es leben die Klischees.
Das ist unvermeidlich. Wer mal in Griechenland war, wer mal die Friedhöfe besucht hat, der kann doch verstehen, dass die Griechen sich zunächst daran erinnern, wie schrecklich es war, als die Deutschen im Krieg als Soldaten und politische Besatzer im Land waren.
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Macht Ihnen Europa Sorgen?
Ja, aber ohne solche Sorgen geht es ja auch nicht vorwärts. Und es wird vorwärts gehen. Die Sorgen werden helfen.
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Es wird vorwärts gehen
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